2012 - Folge 7 - Ein Grab im Dschungel
wollte, »bat« er in der Regel die Kollegen aus der Hauptstadt des Departements Charente-Maritime um Amtshilfe – wenn zum Beispiel einem Sälzer der Wagen geklaut wurde …
Wann Cruchot zum letzten Mal mit seinem eigenen Dienstwagen zu einem Einsatz gefahren war, wusste er gar nicht mehr. Er wusste ja nicht einmal, ob überhaupt noch Benzin im Tank war! Womöglich war das über die Jahre längst verdunstet.
»Na, das ging ja flott«, lobte er die Kollegen aus der Stadt drüben. Dass sie das Fahrzeug des bestohlenen sauniers schon auf der Herfahrt sicherstellen konnten, hatten sie ihm bereits telefonisch gemeldet – und auch, dass sie jemanden mitbringen würden, bei dem es sich um den Dieb handeln mochte – oder auch nicht.
Weil »oder auch nicht« eben nicht auszuschließen war, wies Cruchot die Kollegen an, den Verdächtigen so verschnürt zu lassen, wie er war. Außerdem handele es sich bei den behelfsmäßigen Fesseln ja möglicherweise um Beweisstücke, die ordnungsgemäß zu inspizieren und asservieren seien. Was er jedoch nicht hoffte, denn »inspizieren« und »asservieren« bedeutete »Arbeit«, und während er derlei Arbeiten zu verrichten hatte, konnte Cruchot nicht vor seinem Revier stehen und ein Auge darauf haben, dass in Saint-Martin Recht und Ordnung gewahrt blieben.
Den Blick des jungen Gendarmen, als der und sein altgedienter Kollege den bewusstlosen Tatverdächtigen ächzend an ihm vorbeitrugen, genoss er allerdings. Der Bengel nahm wohl an, Cruchot müsse sich auf der Insel tagein, tagaus mit so seltsamen Dingen herumschlagen wie einem nackten Indio, der mit Streifen aus seiner Kleidung gefesselt am Wegesrand lag.
Aber als er nun aber auf besagten Indio hinabblickte, geschah etwas Merkwürdiges: Louis Cruchot erschauderte. Er fühlte sich wie von einer eisigen Kälte gestreift.
Sein Gefühl , wie er es früher genannt hatte, kleidete er in Worte, die ganz leise über Cruchots Lippen kamen, während er die Kollegen mit dem Indio durch die Tür im Haus verschwinden sah: »Ich glaube, dieser Bursche wird uns noch Ärger machen.«
Den anderen, kleineren Indio, der die Szene von schräg gegenüber beobachtet hatte und der jetzt ein Mobiltelefon an sein Ohr hob, sah Louis Cruchot nicht.
Dann hätte sich sein Gefühl vielleicht noch verstärkt.
Tom Ericson und die Suárez-Geschwister ließen sich per Taxi von der Île d’Oléron auf den Kontinent und dort nach Rochefort-sur-Mer bringen, in die Hafenstadt, die zwanzig Kilometer vom Atlantik entfernt lag und nur durch einen Fluss, die Charente, mit dem Meer verbunden war.
» Bureau de poste, s’il vous plaît«, bat Tom den Fahrer, und kurz darauf erreichten sie das gewünschte Ziel.
Eine halbe Stunde später trat Tom zufrieden strahlend aus dem Postamt, überquerte die Straße und setzte sich zu Maria Luisa und Alejandro, die gegenüber in einem Bistro auf ihn gewartet hatten. Vor allem der Junge hatte einen Mordshunger gehabt. Gerade schob er sich den letzten Rest eines dick mit Schinken belegten Croissants in den Mund und spülte mit Orangensaft nach.
»Sie macht es?«, fragte Maria Luisa.
Tom nickte. »Sie macht’s.«
»Schön.« Maria Luisa gab sich Mühe, ihre Freude ehrlich klingen zu lassen, aber Tom entlarvte ihre Mühe als solche und hätte sich noch einmal ohrfeigen mögen für seine unglückliche Formulierung vorhin auf dem Schiff.
Inzwischen wusste Maria Luisa, dass Abigail seine Ex frau war und er nicht etwa arglistig verschwiegen hatte, verheiratet zu sein. Aber was immer da zwischen ihm und der jungen Spanierin im Entstehen begriffen war, hatte einen kleinen Riss bekommen. Und fast wunderte es ihn, dass er sich sehnlichst wünschte, diesen Riss so schnell wie möglich wieder zu kitten.
Er bestellte bei der Bedienung einen Café au Lait und wandte sich wieder an Maria Luisa, wobei er seine Hand wie beiläufig auf ihre legte. Sie ließ es zu. Nicht das schlechteste Zeichen.
»Ja, sie macht es«, sagte er noch einmal und gab sich seinerseits Mühe, dabei nicht zu enthusiastisch zu klingen. Seine Begeisterung galt aber auch gar nicht Abby, sondern einfach nur der Tatsache, dass die »Operation Armreif« auf den Weg gebracht war.
Er hatte Abby gleich am Telefon erwischt, sie so kurz, aber gründlich wie möglich eingeweiht, und zu seiner Überraschung hatte sie ihm ihre Hilfe ohne Wenn und Aber zugesagt.
Sie hatten sich damals aus mehr als nur einem Grund getrennt – auch wenn es einen Hauptgrund gegeben hatte, der
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