Der Herr der Lüfte
ERSTES BUCH
Wie ein englischer Armeeofizier
die Welt der Zukunft betrat und
was er dort zu sehen bekam
1 Der Opiumraucher von Rowe Island
Im Frühling des Jahres 1903 hatte ich die Gelegenheit, auf Anraten meines Arztes jenes weit entfernte, zauberhafte Stückchen Land mitten im Indischen Ozean zu besuchen, das ich Rowe Island nennen will. Ich hatte mich völlig überarbeitet und mir, wie die Quacksalber das bezeichnen, einen »Erschöpfungszustand« oder sogar eine »Nervliche Zerrüttung« zugezogen. Mit anderen Worten, ich war total erledigt und benötigte eine Ruhepause fernab von allem Trubel. Ich besaß einen kleinen Anteil an der Bergwerksgesellschaft, welche - abgesehen von der Religion - die einzige Industrie der Insel darstellt und wußte, daß ihr Klima ebenso günstig war wie ihre Lage - einer der gesündesten Flecken auf der Welt und 2400 km von jeglicher Zivilisation entfernt. Also besorgte ich mir meine Fahrkarte, packte meine Koffer, verabschiedete mich von meinen Nächsten und Liebsten und schiffte mich auf dem Überseedampfer ein, der mich nach Djakarta bringen sollte. Von Djakarta aus nahm ich nach einer angenehmen, ruhigen Reise eines der Handelsschiffe nach Rowe Island. Ich hatte die Reise in knapp einem Monat hinter mich gebracht.
Rowe Island hat an dieser Stelle eigentlich gar nichts zu suchen. Nichts liegt in seiner Nähe. Nichts, das seine Existenz ankündigen würde. Plötzlich stößt man auf die Insel, die sich wie die Spitze eines Unterwasserberges aus dem Wasser erhebt (und genau das ist sie auch). Sie ist ein großer Keil vulkanischen Gesteins, umgeben von schimmernder See, die poliertem Metall ähnelt, wenn sie ruhig ist, und brodelndem Silber oder geschmolzenem Blei bei Seegang. Der Felsen ist etwa 20 Kilometer lang und acht Kilometer breit, an einigen Stellen dicht bewaldet, an anderen öd und kahl. Das Gelände steigt unablässig an, bis es von dem höchsten Punkt herab auf der anderen Seite des Hügels 250 m schroff zur See hin abfällt.
Rund um den Hafen erbaut liegt eine größere Siedlung, die bei erstem Ansehen einem wohlhabenden Fischerdorf der Grafschaft Devon ähnelt - bis man hinter den Fassaden der Hotels und Büros an der Uferfront die malaiischen und chinesischen Gebäude erkennt. Der Hafen bietet ausreichend Platz für einige ansehnliche Dampfer und eine Vielzahl von Segelschiffen, vorwiegend einheimische Daus und Dschunken, die zum Fischfang benutzt werden. Weiter oben am Hügel erblickt man die Anlagen des Bergwerks, wo der größte Teil der Bevölkerung beschäftigt ist, die sich aus malaiischen und chinesischen Arbeitern, ihren Frauen und Familien zusammensetzt. Die Uferfront wird beherrscht von den Lagerhäusern und Büros der Weiland Rock Phosphate Mining Company und der breiten weiß-goldenen Fassade des Royal Harbour Hotels, dessen Eigentümer ein gewisser Minheer Olmeijer, ein Holländer aus Surabaya, ist. Außerdem existiert eine gottlose Menge Missionen, buddhistischer Tempel, malaiischer Moscheen und Schreine noch mysteriöseren Ursprungs. Darüber hinaus existieren noch ein paar weniger prunkvolle Hotels als das von Olmeijer, einige Läden, Hütten und Gebäude, die zu der winzigen Eisenbahn gehören, welche das Erz vom Berg an die Kais befördert. Zu der Stadt gehören drei Krankenhäuser, wovon zwei nur Einheimische behandeln. Ich sage ›Einheimische‹ im lockeren Sinne. Als sich nämlich vor dreißig Jahren die Leute, die das Welland-Unternehmen gründeten, auf der Insel niederließen, fanden sie keinerlei einheimische Bevölkerung vor; alle Arbeiter wurden von der Halbinsel, vor allem aus Singapur, geholt. Auf einem Hügel südlich des Hafens erhebt sich abseits von der Stadt, die es zugleich dominiert, die Residenz des offiziellen Repräsentanten, Brigadekommandeur Bland, an welche sich Kasernen anschließen, in denen die kleine Garnison einheimischer Polizei unter dem Oberbefehl eines getreulichen Dieners der Krone, Oberleutnant Allsop, untergebracht ist. Über dieser geschniegelten Ansammlung weißen Putzes flattert ein stolzer Union Jack als Symbol für Schutz und Gerechtigkeit, die er allen Bewohnern der Insel garantiert.
Wenn man nicht gerade Wert legt auf die endlosen Einladungen zu anderen Engländern, von denen die meisten nur über den Bergbau oder das Missionswesen zu sprechen verstehen, gibt es auf Rowe Island nicht eben viel zu unternehmen. Es existiert eine Laienspielgruppe, die alljährlich zu Weihnachten ein Stück in der
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