2012 - Folge 7 - Ein Grab im Dschungel
ersten Mal Nordamerika gesichtet, nämlich Florida, das er für eine weitere Insel gehalten hatte. Eigentliches Ziel seiner Suche war jedoch angeblich etwas anderes gewesen – der mythische Jungbrunnen. Fündig war er wohl nicht geworden, jedenfalls gab es darüber keine verbrieften Erkenntnisse. Tom kannte aber neben der Geschichte um den Spanier noch weitere Hinweise – auch aus späterer Zeit –, die eine »Quelle der ewigen Jugend« und Florida immer wieder in Verbindung zueinander brachten.
Und jetzt wollte man dort also einen Alligator erlegt haben, der stolze sechs Meter lang sein und noch stolzere zweihundert Jahre auf dem Buckel haben sollte. Dieses unglaubliche Ergebnis hätten entsprechende Tests erbracht – bisher war man davon ausgegangen, dass diese Tiere höchstens hundert Jahre alt werden konnten.
Natürlich war Tom nicht so naiv, blind auf eine Story zu vertrauen, die in einem Käseblatt wie der »Weekly World News« stand. Aber im Zusammenhang mit den Informationen, die er selbst im Laufe der Jahre zum Thema Jungbrunnen gesammelt hatte, war diese Geschichte eben doch ein Puzzleteil, das ins Bild passte.
Sein Entschluss stand fest.
Er rief im Universitätssekretariat an und erklärte mit vorgetäuscht heiserer Stimme, dass ihn eine schlimme Grippe erwischt hätte und er in den nächsten Tagen seine Vorlesungen leider nicht halten könne. Die Sekretärin bedauerte ihn aufrichtig, nannte ihm ein paar Hausmittelchen und bot ihm ihre persönlichen Pflegedienste an. Er lehnte dankend ab, legte auf und packte Klamotten und andere Sachen in einen Seesack.
Auf der Taxifahrt zum Newark Liberty International Airport ging Tom noch einmal den Artikel durch. Im »Everglades Research Center for Biology and Zoology« in Homestead, Florida, sollte der Kadaver des Alligators von einer Kryptozoologin noch eingehender untersucht werden.
Tom nickte. In diesem Center und bei dieser Expertin würde er mit seiner Untersuchung ansetzen.
Campeche auf Yucatán, Mexiko
Gegenwart
Die Stadt Ah Kin Pech, in der sich vor fünfhundert Jahren die von Tom geschilderten Ereignisse zugetragen hatten, gab es nicht mehr. An der Stelle der Mayasiedlung hatten die Spanier um 1540 eine eigene Stadt gegründet: Campeche, die heute offiziell San Francisco de Campeche hieß.
Die Campechanos – vorwiegend Mestizen, zahlenmäßig gefolgt von Nachkommen der Maya und ergänzt um ethnische Minderheiten aus fast aller Welt – bezeichneten ihre Zweihundertfünfzigtausend-Einwohner-Stadt als die sauberste in ganz Mexiko. Und als Abby Ericson sich per Taxi vom Flughafen ins Zentrum chauffieren ließ, fand sie diese Behauptung bestätigt. Wo sie auch hinsah, reihten sich teils farbenfrohe, oft flache und durch die Bank gut in Schuss gehaltene Häuser aneinander, dazwischen auch moderne Bauten aus viel Glas, Beton und Metall. Alles Grün wirkte gepflegt, und einmal bückte sich sogar ein Passant, hob eine leere Fastfood-Tüte vom Bürgersteig auf und warf sie in einen Abfallkorb.
Immer wieder fiel Abigails Blick auch hinaus auf die türkisfarbene Bucht von Campeche, den Golf von Mexiko, und sie musste an die Burrunan-Delfine denken, von denen es da draußen eine Schule geben sollte. Diese Hoffnung, sie zu Gesicht zu bekommen, hatte sie inzwischen aufgegeben.
»Wir sind da«, meldete der Fahrer und stoppte den Wagen in einer schmalen Straße vor einem Durchgang zwischen einem gelben und einem roten Haus. Er holte Abbys Gepäck aus dem Kofferraum, sie bedankte sich, er dankte seinerseits wortreich für das Trinkgeld. Daraufhin erbot er sich noch, ihr den Koffer und die Reisetasche zu tragen, aber sie winkte ab.
Als das Taxi davonfuhr, ging Abby mit geschulterter Reisetasche und den Rollkoffer übers unebene Pflaster ziehend durch die Gasse. Sie mündete in einen Hof, den die Rückfronten mehrerer Häuser bildeten. Aus einer offenen Tür drangen die Arbeitsgeräusche einer Werkstatt und hallten von den Mauern ringsum wider.
Im Schatten hinter der Tür sah Abby eine Bewegung, dann trat ein kräftiger Mann mit grauer Löwenmähne heraus, in dessen fleischigem Gesicht seine europäischen Vorfahren deutliche Spuren hinterlassen hatten.
»Doctora Ericson?«, fragte er.
Sie nickte. »Señor Menéndez?«
»Si. Aber nix Señor – Honorato für Freunde von meinem Freund Tom!« Der Campechano warf die Arme hoch und kam strahlend auf sie zu, als würden sie sich schon eine ganze Ewigkeit kennen und hätten sich lange nicht gesehen. »Ah,
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