2012 - Folge 8 - Der zeitlose Raum
den Weg zur Gendarmerie zu beschreiben?«, bat er ganz nebenbei.
»Oh, da gibt es nicht viel zu beschreiben. Sie sind nur zwei Ecken davon entfernt.« Der Kellner malte den Weg trotzdem auf eine Serviette. »Ein weißes schmales Haus – Château Cruchot, so nennen wir unsere Gendarmerie. Oder besser gesagt, seine Gendarmerie.«
McDevonshire lupfte fragend die buschigen Brauen.
Der Mann hinter der Theke, jetzt Glas und Poliertuch in den Händen, lächelte. »Louis Cruchot ist ein Flic vom alten Schlag, wenn Sie verstehen. His home is his castle «, erklärte er in stark akzentuiertem Englisch, um seinem britischen Gast einen Gefallen zu tun. »Bei schönem Wetter steht oder sitzt Cruchot praktisch den ganzen Tag vor der Tür und bewacht die Insel – so weit er sie von dort aus überblicken kann. Wenn es außerhalb seines Sichtfelds etwas zu tun gibt, ruft er Amtshilfe vom Festland herüber. Ein Original eben.« Der Kellner stellte das blank gewienerte Glas weg und griff sich ein anderes. »Leider eines der letzten, die wir haben. Die alte Garde stirbt aus, und was nachkommt …« Er winkte mit dem Geschirrtuch ab.
McDevonshire nickte verstehend. Er musste an Walter Jorgensen denken, seinen um Jahre jüngeren Vorgesetzten, mit dem er … nun, »nicht auskam« zu sagen, hätte bedeutet, ihr Verhältnis schönzureden.
»Ich hoffe, Cruchot bleibt uns noch ein wenig erhalten«, fuhr der redselige Kellner fort. »Auch wenn er manchmal unausstehlich ist. Allerdings …«
»Ja …?«
Der Mann hob die Schultern. »Er sieht nicht gut aus, unser Cruchot. Ist mir in den letzten Tagen aufgefallen. Ich komme auf dem Her- und Heimweg an der Gendarmerie vorbei, und als ich ihn da vor seiner Tür stehen sah …« Er schüttelte den Kopf. »Er sah nicht gesund aus, wissen Sie? Blass, müde, alt geworden.« Noch ein Achselzucken. »Vielleicht war deshalb der alte Doktor Saunier bei ihm. Obwohl …«, er legte Glas und Tuch weg, »… der auch nicht viel besser ausgesehen hat.«
Er nahm McDevonshires leere Tasse und Unterteller vom Tresen. »Darf’s noch einer sein?«
»Nein, vielen Dank.« Der Engländer legte Geld auf den Tresen und verabschiedete sich.
»Grüßen Sie Cruchot von mir«, rief ihm der Kellner nach.
»Gern.«
Mit schönen Grüßen von einem Bekannten ließ sich Fremden gegenüber immer gut das Eis brechen. Und da er bei Louis Cruchot vorstellig wurde, um quasi in dessen Revier zu wildern, mochte sich der Gruß des Kellners als nützlich erweisen.
McDevonshire stieg in seinen Wagen und fuhr los.
Die Gendarmerie von Saint-Martin-de-Ré war in der Tat leicht zu finden. Das schmalbrüstige Haus ragte fast turmartig in Sichtweite des Marktplatzes auf. Zur grün gestrichenen Tür führten ein paar Stufen hinauf, unter einem der Fenster neben dem Eingang stand ein verwaistes Bänkchen.
McDevonshire konnte sich gut vorstellen, wie ein Wachdienst schiebender Gendarm in Uniform in dieses Bild passte, mitten hinein, vor die Tür oder auf die Bank, von jedem Passanten respektvoll gegrüßt.
Aber bei diesem Wetter zog Cruchot es offenbar vor, den Posten vor dem Haus unbesetzt zu lassen. Dafür machte McDevonshire beim Aussteigen eine Bewegung am Fenster aus, und als er hinschaute, sah er ein blasses Gesicht sich langsam zurückziehen.
Er klopfte an, hörte schlurfende Schritte, dann wurde die Haustür ein Stück weit aufgezogen. Das blasse Gesicht erschien in dem Spalt – das Gesicht eines kleinen Mannes mit Stirnglatze, grauem Haarflaum und großer Nase. Da McDevonshire sehr hochgewachsen war, reichte ihm der uniformierte Gendarm gerade bis zur Brust. Der Engländer bemühte deshalb sein einnehmendstes Lächeln und stellte sich in lupenreinem Französisch vor.
»Der Kellner des Bistros um die Ecke lässt Sie übrigens schön grüßen«, schloss er zunächst.
»Bistro?«, wiederholte Cruchot, der sich bisher weder vorgestellt, noch auch nur gegrüßt hatte. »Kellner?« Er schien im ersten Moment mit beiden Begriffen nichts anfangen zu können. Dann nickte er doch. »Ach so, ja. Schön. Merci.«
»Darf ich eintreten?«, fragte McDevonshire. »Ich hätte ein paar Fragen unter Kollegen. Es geht unter anderem um eine Reihe von Morden in Spanien, um einen Mann namens Thomas Ericson und um das Containerschiff Sanjita , das vor ein paar Tagen draußen vor der Küste Ihrer Insel von Piraten überfallen wurde.«
Cruchot sah ihn von unten herauf merkwürdig starr an. Nur tief in seinen Augen schien sich etwas
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