2.02 Der fluesternde Riese
Wütend und traurig, ja, und verzweifelt. Verzweifelt darüber, dass ich mich heimlich mit April, der Wölfin von Ragnarök, getroffen hatte. Dass ich ihr erlaubt hatte, mich zu küssen, und dass April mich gebeten hatte, zu den Wölfen zu kommen.
Verfuchst! Das hatte ich alles in meiner Freude vergessen, denn ich war doch da. Ich war bei den Wilden Kerlen geblieben, und weil ich so glücklich war, fuhr ich in die Waldfriedhofstraße hinein. Ich sah meine Freundin hinter dem Fenster. Ich winkte ihr zu, und meine Stimme überschlug sich vor Freude, als ich ihr zurief: „Wir haben’s geschafft! Komm mit in den Teufelstopf , damit wir es Willi erzählen! Damit wir uns bei ihm bedanken können!“
Ich strahlte sie an. Ich sah sie noch einmal über den Bretterzaun tanzen. Den windschiefen Bretterzaun, der um den Teufelstopf stand. Sie rannte mit verbundenen Augen über das Tor, und während die Wölfe von Ragnarök, die unserem Training vom Hügel aus zusahen, vor Staunen ihren Spott vergaßen, bestand Vanessa für uns den Lancelot-Test hoch zwei.
Ich sah noch einmal, wie alles passierte: Mein Pass war zu ungenau. Er war viel zu kurz. Er würde Vanessa nicht mehr erreichen. Da sprang die Unerschrockene vom Zaun, hinaus auf die Steppe, ergriff eine der Fahnen, die vom Turm herabhing – dem Turm in der Ecke –, und schwang sich an ihr wie an einer Liane auf den Bolzplatz zurück. Dort streckte sie sich, kratzte das Leder, kurz bevor es den Boden berührte, mit der Zehenspitze aus der Luft und schlug es todsicher zu mir herüber.
„Raaah!“, rief ich laut. „Komm schon, Vanessa! Wir haben’s geschafft! Komm mit in den Teufelstopf! “
Ich strahlte sie an und ballte die Faust. Ich konnte die Tränen in ihren Augen nicht sehen. Und um sie zu spüren, ja, um Vanessas Tränen zu fühlen, wie ich, der sie liebte, es eigentlich musste, roch die Welt viel zu gut. Die Luft war nach dem Regen so sauber und rein, und die Farben, die man im Dunkeln erkennen konnten, glänzten, als hätte man alles gerade erst ganz frisch gestrichen. Als wäre alles gerade eben geboren. Als strotzte alles vor wilder Kraft. Und mit der Entschlossenheit, alles zu können, raste ich an der Spitze der Kerle hinaus auf die Steppe und über den Hügel. Wir waren so schnell, dass wir darüber sprangen. Wir jauchzten und schrien.
„Hey, Willi, wach aus deinem Dornröschenschlaf auf!“
„Die Zeit der Träume ist vorbei!“
Wir sahen den Vollmond am Himmel stehen, und wir sahen, wie er in den Teufelstopf fiel. Ja, er schien aus dem Bolzplatz – nicht vom Himmel herab –, und im selben Moment, als die Gewitterwolken sein Antlitz verhüllten, als es plötzlich ganz dunkel wurde, stand die Welt kopf.
„Marlon, pass auf!“, hörte ich Leon hinter mir schreien.
„Rübengeschleimtes Schwefeldesaster!“, rief Nerv neben Juli, und dann tauchte mein BMX-Motocross-Fahrrad auch schon in den See, bohrte sich dort in den fußtiefen Schlick, bäumte sein extrabreites Hinterrad auf und warf mich über den Lenker.
Ich sah noch, wie Leon neben mir stürzte. Markus und Nerv flogen über mich weg. Ich hörte sie schreien. Ich hörte den Splash . Den doppelten Splash ihrer sumpfigen Landung. Das Bild der vom Wasser gespiegelten Wolken zerplatzte. Ja, der ganze Teufelstopf war ein sumpfiger See, in dem sich der Himmel gespiegelt hatte. Ich hörte das Sirren des Beiwagenrades, das neben mir in den Himmel ragte. Ich hörte, wie es langsam langsamer wurde … und dann war es still.
EIN SIEG, DER INS WASSER FÄLLT
Der Teufelstopf war ein fußtiefer Sumpf. Ein Sumpf, wie er um Mordor liegt. Das Schwarze Land in Mittelerde, das niemand jemals betreten will. Dort, wo vor zwei Tagen noch Willis Wohnwagen stand, trieb der Müll auf dem Wasser. Die einstmals so stolzen Fußballtore neigten sich schon und drohten zu stürzen.
Ich sah zu Leon. Der stand schlammbeschmiert neben mir, und hinter und vor uns kämpften sich Raban und Maxi, Markus und Juli und Nerv aus dem Schlick. Auch sie sahen entgeistert auf den sumpfigen See, der bis vorgestern noch unser Bolzplatz gewesen war.
„Schlammmonster-gematschte Schweinigelei“, beschwerte sich Nerv und hob seine mit Schlickfäden behangenen Arme. „Willi, wo bist du? Was soll dieser Mist?“
Da grinste mein Bruder, denn wir standen jetzt alle wie Schokoladeneismännchen da, die schon halb geschmolzen waren. „Ich denke, er wollte nicht so aussehen wie wir und hat sich deshalb vor dem Regen verkrochen.“
„Ja, er
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