Die Flammen der Dunkelheit
I
Die Saat des Mondes
Die Nacht verschlingt den Mond,
um Dunkelheit und Schläue zu gebären.
Ihr Blut wird zwei Farben tragen,
vereint erwecken sie die Sonne.
Die 7. Prophezeiung Maidins
Die Sonne erwecken! Kann sich denn jemand an eine Zeit voller Wärme und Sonnenschein erinnern? Als noch nicht alles nach nasser Wolle, schimmelndem Leder und moderndem Holz roch? Einst war Regen nur willkommene Erfrischung – heutzutage ist er ein nicht enden wollender Fluch, der Missernten und Hunger bringt. Kein Kind vermag mehr über üppig blühende Wiesen zu tollen und seiner Mutter bunte Sträuße zu pflücken. Wer hat zuletzt einen Himmel voller Sterne gesehen? Oft frage ich mich, ob irgendein Mensch jemals die wahre Ursache begriffen hat. Zumindest der Erwählte müsste als Sprachrohr Jalluths die Schuld der Menschen doch erkennen. Aber vielleicht ist er bereit, den Preis zu zahlen. Oder er weiß durch Jalluths Macht Dinge, die uns nicht zugänglich sind. Ebenso gut ist es möglich, dass sie alle miteinander blind sind, blind für das, was wirklich geschieht. So wie sie das Dunkle zu sehen meinen, wo nur Licht ist, sehen sie nicht, dass sie aus der Strahlenden Stadt ein karges, düsteres Gefängnis gemacht haben.
Wie seltsam ist die Gabe, in die Zukunft zu sehen! Manche Bilder erschließen sich mir ganz von allein, andere bleiben rätselhaft, selbst wenn sie dringlich scheinen, da sie auch von anderen in ihren Träumen erblickt wurden. Was hat es mit dem Boot auf sich, in dem drei Personen unsere Insel verlassen? Niemand hat je ihre Gesichter geschaut, noch sonst einen Hinweis, um wen es sich handelt. Ihre Gestalten bleiben stets schemenhaft. Aber wieder und wieder taucht dieses Bild in unseren Köpfen auf und das Schiff verschwindet am Horizont, ohne sein Geheimnis je preiszugeben. Aithreo ist beunruhigt, ich weiß es. Fürchtet er, dies wären die letzten Überlebenden, auf der Flucht vor den Häschern der Jalluthiner? Nun, das mochte eine Bedeutung des Bildes sein. Vielleicht werden wir es erst wissen, wenn es geschieht, und dann könnte es zu spät sein. Es heißt, die Gabe zu sehen wäre ein Geschenk, und doch werde ich das Gefühl nicht los, dass sie eher wie ein Fluch auf mir lastet. Seit einiger Zeit schon erscheint ein dunkler Schatten am Rande meines Blickfelds, aber immer, wenn ich versuche ihn zu betrachten, entzieht er sich. Geht es auch anderen so oder trügen meine Sinne? Und warum besitzt überhaupt jemand, dessen Blut zwei Farben trägt, diese Fähigkeit? Etliche meiner Fragen bleiben ohne Antwort. Vermutlich sogar für immer. Wie viel einfacher sind da die Worte der Prophezeiungen Maidins zu verstehen!
Die siebte Prophezeiung – unzählige qualvolle Jahre haben wir darauf gewartet, und nun teilte mir der Bote mit, gestern Nacht sei sie Wirklichkeit geworden. Hoffnung keimt in mir auf, obwohl ich mir auch eingestehen muss, dass ich immer noch Zweifel hege. Selbst wenn es vorhergesagt ist, wie nur soll unser Plan aufgehen? Maidin, das Licht, würde mir meine Verzagtheit sicher vergeben, zu allwissend erscheint der Erwählte Jalluths. Unermüdlich habe ich versucht zu ergründen, woher er seine Macht bezieht, denn es will mir nicht gelingen, an Jalluth zu glauben, ganz gleich wie sehr ich faste oder zu ihm bete. Jalluths Flamme ist mir nie erschienen, ja ich wünschte sogar, sein Tempel möge brennen und mit ihm alle Jalluthiner, die so viel Leid gebracht haben. Für diese Ketzerei würde man mich hinrichten, sollte jemand meine Gedanken kennen oder dieses Tagebuch finden. Aber das wird nicht geschehen, denn ich habe eine Aufgabe zu erfüllen.
Die siebte Prophezeiung! Noch können wir nicht sehen, wie es einmal geschehen wird, aber wir werden alle Kräfte aufbieten müssen, um die beiden zu beschützen. Ohne sie wird die Sonne niemals aufgehen und wir werden nicht erwachen.
Cathair-lonrach,
die 109525. Nacht seit dem Untergang der Sonne
Nicht einmal der Erwählte Jalluths, das Oberhaupt der Priesterschaft, dachte an die uralte Prophezeiung, als die junge Königin mit der tatkräftigen Unterstützung dreier Hebammen einem Sohn das Leben schenkte. Zu groß war der Jubel im Palast, dass acht Monate nach dem Tod des gebrechlichen Königs die Thronfolge gesichert war. Vielleicht war auch die dichte Wolkendecke schuld, die den Nachthimmel und damit die Mondfinsternis verbarg. Oder man hätte den Feind niemals in den eigenen Reihen vermutet. Und so schlief das Neugeborene unbehelligt und umsorgt von
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