2030 - Chimaerenblut
hatte sie nie anders kennen gelernt. Leon und ihr Vater kannten sie nur mit Beinen.
Dad? Er liebt mich, Hauptsache ich lebe.
Aber Leon? Ein schmerzhafter Stich ging ihr durchs Herz. Wie kann er mich so noch lieben?
Sie weinte, doch das Meer spülte ihre Tränen fort. Wo sollen wir hingehen? Mein Zuhause ist jetzt das Meer. Eine Meerjungfrau und eine Pferde-Chimäre, das passt nicht zusammen. Es wird ein Abschied für immer...
Die Wellen schlugen klatschend gegen das Motorboot. Thomas Garden umklammerte das Steuer und suchte ungeduldig das Meer ab. Er schaltete den Motor aus und ging auf dem schaukelnden Boot nach hinten zu Leon. Er mied es, Leon anzusehen. Seine Angst um seine Tochter ging nur ihn etwas an, und Gefühle waren jetzt fehl am Platze. Er wollte seine Tochter zurück. Jetzt!
Sie hatten das Rätsel gelöst. Neunzehn Hühner hatte Leon gesagt. Neunzehn Uhr! Er blickte ungeduldig auf den NanoC .
Wo bleibst du Josi?
Sie warteten jetzt schon über eine Stunde am Außenring vom Hotel Atlantis. Was hatte seine Tochter ihnen noch mitgeteilt? Sie hatte auf den Antikriegsklassiker Das Boot verwiesen. Aber was genau bedeutete das? Würde sie mit einem Boot kommen? Mit einem U-Boot? Er spähte zu den Schnellbooten die am Horizont im Sonnenuntergang kreuzten. Yachten dümpelten in der Ferne.
Josi, wo steckst du?
Auf zehn Metern Entfernung erspähte er den Schlag einer großen Flosse. Der Rücken des Fisches tauchte erneut auf und glänzte silbern im Licht der untergehenden Sonne, als hätte er kleine Spiegel auf dem Leib. Dann tauchte er ab. Gardens Kiefermuskeln verspannten sich. Ein merkwürdiger Fisch, der so glitzert. Kein Delfin, kein Hai. Aber auch kein Mensch und verdammt, kein Boot, das näher kommt.
Josi?
Als ihr Gesicht aus dem Wasser auftauchte, wusste er, dass er sich die ganze Zeit etwas vorgemacht hatte. Jetzt war es bittere Gewissheit. Seine geliebte Tochter lebte im Meer – aber sie lebte. Auf den ersten Schock folgte die Erleichterung. Hauptsache du lebst, und du bist zurück.
»Josi, endlich«, rief er, streckte seine Arme aus, zog sie auf die Schwimmplattform des Motorboots und hielt sie so fest, als wollte er sie nie wieder loslassen. Er küsste ihr nasses Haar, spürte ihre zarten Arme um seinen Hals und flüsterte: »Meine Kleine, mein Baby, du lebst, alles ist gut. Ich habe dich so vermisst.«
Leon ballte die Hände zusammen. Er fühlte sich elend und verdammt schuldig. Er hatte Josi in diese Lage gebracht. Er schluckte und starrte aufs Wasser. Würde sie ihm das jemals verzeihen? Er erhaschte einen kurzen Blick auf ihr Gesicht. Schmaler war sie geworden, und älter, und noch immer wunderschön. Ihr Fischschwanz glitzerte silbern und die fächerförmige Flosse sah aus wie die einer Märchenbuch- Mermaid . Er stutzte. Glitzernde Schuppen! Silberne?
Am liebsten hätte er sie sofort in seine Arme gezogen, aber er wagte es nicht einmal, sie zu berühren. Endlich löste sie sich aus der Umarmung ihres Vaters, drehte den Kopf, sah ihm in die Augen und streckte eine Hand nach ihm aus.
Sein Herz klopfte.
Ihr Herz klopfte.
Im nächsten Moment fühlte Josi sich in Leons Arme gezogen. Seine Wange berührte ihre Wange. Sie fasste in sein kurzes Haar. Du hast dich auch verändert. Nicht nur ich. »Leon«, flüsterte sie.
»Josi, verzeih mir.«
» Scht . Du hast daran keine Schuld.«
»Aber ich habe dich da mit hineingezogen.«
»Du konntest es nicht wissen. Wir wussten doch gar nichts. Schuld haben die, die uns das angetan haben.«
» Wilmershofen und seine geldgierigen Hintermänner. Er büßt hoffentlich in der Hölle.« Leons Mundwinkel verzogen sich nach unten.
»Ja Leon, und es wird immer so weitergehen, wenn wir nichts dagegen tun.«
»Josi, ich wollte damals nicht, dass du gehst…«
»Ich habe dir verziehen«, sagte sie und legte einen Finger auf seine Lippen. Dann küsste sie ihn zaghaft auf den Mund. Er erwiderte ihren Kuss stürmisch. Wärme flutete ihre Gedanken. Schließlich wand sie sich aus seinen Armen heraus, denn sie wusste, als halber Fisch konnte sie nicht bei ihm bleiben. Doch dann sah sie seine Kiemen…
Hinter ihrem Rücken machte das Wasser ein unnatürlich schmatzendes Geräusch. Irritiert drehte sie sich zu ihrem Vater um. Bevor sie etwas sagen konnte, schnellte hinter ihm ein Mann im schwarzen Neoprenanzug hoch. Ein Kampfschimmer. Sein Gesicht war hinter der Taucherbrille undeutlich zu erkennen, nur sein kräftiges, eckiges Kinn.
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