2030 - Chimaerenblut
1
Sieben Jahre nach der Pandemie
Donnerstag, 2. Mai 2030, Berlin (Kleinmachnow):
» You and me baby ain’t nothin ‘ but mammals «, trällerte der Oldie der Bloodhound Gang auf Josefine Gardens Kommunikator. Seit jüngstem waren jahrzehntealte Songs in Mode, deren Texte durch die Geschehnisse der vergangenen sieben Jahre eine neue Bedeutung bekommen hatten. Josi hatte die MP3-Sammlung ihres Vaters durchwühlt und den Hit der Gruppe aus Quakertown auf ihren Mini-Kommunikator hochgeladen. Um sich zu autorisieren und das Gespräch anzunehmen, tippte sie mit dem Zeigefinger aufs Display und ließ sich aufs Bett fallen.
»Andrew, was willst du?«
»Blubbere doch nicht immer gleich los!«
Sie drückte den Empfängerknopf an ihrem Ohrring und schaltete den quakenden Lautsprecher auf Lautlos. »Sprich nie wieder von Blubbern. Ich bin kein Fisch und hör auf, mich zu kontrollieren.« Stirnrunzelnd streckte sie das rechte Bein in die Luft und betrachtete den blauen Fleck an ihrem Oberschenkel. War sie wirklich nach der Party so betrunken gewesen und die Treppe hinuntergefallen, wie die Clique behauptet hatte? Jedenfalls konnte sie sich an nichts erinnern. Nur daran, dass sie mit Kathi und ihren Freunden Ki - Ba -Mi getrunken hatte. Kirsch-Bananensaft gemischt mit irgendeinem Alkohol. Um einen weiteren Drink zum halben Preis zu erhalten, hatten sie versucht die unbekannte Alkoholkomponente zu erraten.
»Josi, was machst du?«
»Was soll die Frage? Das geht dich nichts an.« Sie ließ das Bein aufs Bett fallen.
»Gib zu, du bist wieder mit diesen radikalen Spinnern zusammen, diesem Marc oder Leon…«
Das reicht jetzt endgültig, dachte sie, verdrehte die Augen und legte ohne zu antworten auf. Ihrem Nano-Computer befahl sie weitere Anrufe von Andrew zu ignorieren. Dann schaltete sie das Gerät aus. Für das, was sie vorhatte, konnte sie keine Störungen gebrauchen.
Entschlossen schwang sie die Beine aus dem Bett, zog den schwarzen Taftschal von der Stuhllehne und wickelte ihn um den Hals. Hektisch wühlte sie im Kleiderschrank und schob eine weiße Bluse nach hinten. Spießiges Teil, dachte sie. Beim nächsten Besuch bei ihrer Mutter würde sie es dort im Kleiderschrank verschwinden lassen. Schließlich zog sie ein ärmelloses schwarzes Shirt mit der Aufschrift »SOS Abi – (R)EVOLUTION« hervor. Es konnte im Dunkeln leuchten. Sicherheitshalber blockierte sie die Funktion an einem kleinen eingenähten Knopf. Bloß keine Signale! Dann schlüpfte sie in dunkelblaue Stretchjeans und zog schwarze Reiterstiefel an. Zuletzt warf sie einen prüfenden Blick in den Spiegel und tuschte ihre Wimpern. Mehr war nicht drin. Leon, den Kopf der Gruppe, konnte sie nur mit Taten beeindrucken.
Leon!
Alleine der Gedanke an seinen Namen ließ ihr Herz schneller schlagen. Beim letzten Treffen hatte er ihr länger als sonst in die Augen gesehen.
Sie löste die Haarspange und ließ ihr blondes Haar über die Schultern fallen. Ihre gleichmäßigen Gesichtszüge und die braunen Augen deuteten nicht darauf hin, dass sie eine Fisch-Chimäre war.
Es war einer der ersten warmen Tage im Jahr, trotzdem steckte Josi die Mütze in ihre Schultertasche. Ein Verlegenheitsgeschenk ihres Vaters.
Wenn er ahnen würde…
Sofort verdrängte sie den Gedanken an ihren Vater, der zum Glück nicht vor Mitternacht aus der Redaktion nach Hause kommen würde. Wenn er wüsste, was sie heute Nacht vorhatte, würde er sie einsperren, obwohl sie bereits siebzehn war. In ihrem Magen kribbelte es. Eine Jugendstrafe hatte sie bereits hinter sich. Damals, die Aktion auf dem Schlachthof war gründlich daneben gegangen. Eine übersehene Überwachungskamera hatte alles gefilmt. Josi hatte die Wände besprüht: »Pferde, Schweine, Kühe – sind auch Menschen!«
Der Jugendrichter hatte hart geurteilt. Wochenlang musste Josi an ihren freien Wochenenden in einem Altenpflegeheim arbeiten. Ihr Vater war vor allem stocksauer, weil der soziale Dienst zu Lasten ihrer schulischen Leistungen ging.
Die Gruppe hatte sich nach der Schlachthof-Aktion aufgelöst, und Josi schloss sich den Assisi-Wächtern an – Aktivisten, die sich nach dem Schutzpatron der Tiere benannt hatten. Ursprünglich wollte sie nur im Hintergrund helfen, Flugblätter vorbereiten, Pläne aushecken…
Schon bei der ersten Begegnung war sie von Leons großen braunen Augen verzaubert gewesen. Behutsam hatte er zwei Finger auf das Tuch an ihrem Hals gelegt und mit tiefer Stimme gesagt, »willkommen im
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