209 - Die fliegende Stadt
Angstschreien der Tiere erzeugte bei Hau Mikh auch nach Jahren noch Gänsehaut. Er schüttelte sich, rümpfte die Nase über den süßlich metallenen Duft des Blutes und fuhr mit den Fingern über den gehäuteten Körper einer Gazelle am Haken.
Ein hünenhafter Ambassai in weißer Schutzkleidung zog die dampfgetriebene Säge über die Führungsschiene an der Decke heran, ließ sie aufjaulen und setzte zum Schnitt an.
Im selben Moment erhielt Hau Mikh einen Stoß in den Rücken. Mit einem Schrei stolperte er nach vorn, direkt auf das Sägeblatt zu. Wie in Zeitlupe sah er die spitzen Zähne der rotierenden Scheibe auf sich zukommen. Hau Mikhs Arme ruderten, und er unterdrückte gerade noch den Impuls, sie Halt suchend auszustrecken. Stattdessen zog er den Kopf ein und ließ sich fallen.
Die Säge traf auf Fleisch, und die Tonlage ihres Gesangs wurde tiefer; Sehnen schnalzten, in Sekundenschnelle teilte ein Graben Muskelfleisch und Fett. Jetzt erst schaltete der Koloss ab und trat zurück. »Hingefallen? Is hier sehr gefährlich!«
Hau Mikh schmeckte Blut auf seiner Unterlippe, als er langsam den Kopf drehte. Über ihm baumelte die Gazelle. Der Schlachter hatte ihn um Haaresbreite verfehlt.
»Wer, bei Amentus Zorn, war das?« Hau Mikh sprang auf und drängte sich zwischen den Tierhälften hindurch, die um ihn herum an Haken von der Decke hingen. »Zeig dich, du hinterlistiger Schakaal! Stinkende Snaakbrut! Feiger Meuchelmörder!«
Die umstehenden Ambassai hielten in ihrer Arbeit inne. Ein Dutzend mitleidlose Augenpaare richteten sich auf den Egeeti.
»Verdammte Nichtsnutze! Ihr steckt doch alle unter einer Decke! Ihr…«
Hau Mikh bezähmte sich, griff nach einem Küchentuch und drückte es sich auf die geschwollene Lippe. Für diesen Verrat werdet ihr noch büßen.
Er konnte sich denken, wer hinter den Anschlägen auf sein Leben steckte. Sein hoher Rang bei der Mistress rief genügend Neider hervor. Er – der egeetische Sklave, der Irrgläubige – hatte am Hof einen sagenhaften Aufstieg erlebt. Und das nicht nur, weil seine Hautfarbe einige Nuancen heller war als die der Kenyaaner. Hau Mikh hatte schnell erkannt, wonach Crella Dvill mehr als alles andere verlangte, und er hatte diese Gier bedient – zumindest so weit, wie es auch seinen Zielen nützte.
Natürlich war ihm daran gelegen, dass außer ihm niemand eine solche Machtstellung bekam.
Zurück in seiner Kammer, widmete sich Hau Mikh ausgiebig der Körperpflege – wusch sich den Gestank des Schlachthauses vom Leib und desinfizierte die aufgeplatzte Lippe. Dann zog er seine beste weiße Livree an, setzte sich eine frisch gepuderte Perücke auf und schminkte sich den Rest der sichtbaren Haut mit einer Mixtur aus Palmöl und Kaolin. Ein Spritzer Mohnblütenextrakt, und er war bereit für das nachmittägliche Stelldichein mit seiner Herrin.
Doch aus dem erhofften Schäferstündchen wurde nichts. Als er das Schlafgemach der Mistress betrat, rannte diese, nur mit Spitzenkragen und Unterkleid bedeckt, wie ein verwundeter Tiger im Kreis und verfluchte einmal mehr Erzulie, die Voodoo-Göttin der Liebe und Schöpfungskraft, für ihre verschwenderische Haltung der Kaiserfamilie gegenüber.
»Heute Mittag kam ein Bote und brachte Nachricht aus der Wolkenstadt«, erzählte sie atemlos. »Crella, sagte ich mir, Crella, diesmal sind die Götter auf deiner Seite – diesmal wird er dich zu sich rufen.«
Sie stampfte mit ihren weiß lackierten, kniehohen Stiefeln auf und packte im gleichen Zug Hau Mikh an der Gurgel.
»Aber nein, wieder nur eine in Worte gekleidete Demütigung! Trotz all der Mühen ignoriert mich de Rozier immer noch, schickt allerhöchstens zwei Mal im Jahr einen geierköpfigen Beamten, der in meinen Steuerbüchern schnüffelt. Dabei bin ich die Einzige, die ihn wirklich versteht – die Einzige, die genug Grips hat, um ihm zu noch mehr Macht und Ruhm zu verhelfen!«
Hau Mikh röchelte zustimmend.
»Doch was teilt er den Wolkenstädten mit? Eine seiner Nebenfrauen hat schon wieder ein Balg geboren, und es ist hellhäutig! Nicht annähernd weiß, aber doch deutlich heller als seine übrigen Kinder.«
Knurrend zog sie Hau Mikh zu sich heran, bis ihre Lippen groß und dick vor seinen Augen tanzten. »Ich allein bin würdig, ihm einen Thronerben zu schenken! Und ich werde es ihm beweisen, sobald sich Asperginas Prophezeiung erfüllt!«
Als es Hau Mikh schwarz vor Augen wurde, lockerte die Mistress ihren Griff. Erleichtert sank er vor ihr auf
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