Scham und Schamlosigkeit: Die wahre Geschichte der Marianne Dashwood (German Edition)
Prolog
Ich weiß nicht, warum ich diese Geschichte aufschreibe, aber ich weiß, dass ich es tun muss. Es ist wie ein unausweichlicher Zwang, wie ein glühendes Metallband, das sich um meine inneren Organe legt und immer fester zusammenzieht, je mehr ich versuche, mich davon zu befreien.
Wenn ich zurückblicke, auf die Monate, die hinter mir liegen, dann stehe ich ungläubig vor den Bildern, die sich in meinem Geist ausbreiten und im Wind wehen wie feinste Seide. Rote Seide, die im fahlen Licht der Petroleumlampen schimmert wie Kerzenwachs auf weißer Haut. Unschuldige Haut. Meine Haut. Ein Frösteln durchläuft meinen Körper, aber auch Hitze, und immer noch steigt mir die Schamesröte ins Gesicht, wenn ich an die erste Begegnung mit Mr Willoughby denke. Und an die unzähligen Begegnungen, die folgen sollten. Ich bete zu Gott, dass der Oberst niemals erfährt, was sich in Willoughbys Haus abgespielt hat. Dass er niemals auch nur erahnt, in welche Abgründe ich gefallen bin, bevor ich ihm das Jawort gab.
Es fällt mir unsagbar schwer, diese Worte niederzuschreiben und gleichzeitig so leicht wie nichts anders in meinem Leben und ich schäme mich meiner Schamlosigkeit.
Ich weiß nicht, wie es dazu kommen konnte. Ich weiß nichts mehr. Alles, was ich zu wissen glaubte, hat sich aufgelöst in Dämmerlicht, in Geruch nach Kerzenwachs, in Atmen und Tasten und Halten. In einem Vakuum, das fern der Realität entstand, mich einsaugte - und aussaugte wie ein Geschöpf aus einem Schauerroman.
Warum schreibe ich das? Warum lasse ich die Vergangenheit nicht ruhen, ergreife Brandons Hand und schenke ihm ein Lächeln, das mich wie ihn wärmen würde?
Antworten. Es sind Antworten, die ich in meinen Worten zu finden hoffe. Was Willoughby und mich verband, hatte nichts mit Liebe gemein, nichts mit Zuneigung, nichts mit Freundschaft. Wir waren Fremde und sind es noch immer. Wir sind weniger als Fremde, wir sind Geschöpfe aus unterschiedlichen Materialien erschaffen, zu unterschiedlichen Zwecken – und doch sind wir uns ähnlicher als Kiesel, die tausend Jahre im gleichen Flussbett überdauert haben. Geschliffen und geformt, im steten Strömen. Mir ist, als könnte ich spüren, wie das Wasser über meinen Körper fließt, Strudel an meinen Brüsten bildet, an mir zerrt und leckt. Meine Haut rötet sich, meine Schenkel brennen im kalten Feuer des Stroms, der mich umspült, mich trägt, mich fallen lässt, wie es ihm gefällt. Der mich ausfüllt bis in die tiefsten Winkel meines verdorbenen Fleisches und mir meinen Willen nimmt. Aber das ist eine Lüge. Ich habe mich ihm geöffnet wie eine Hure, ihn mit weit gespreizten Beinen erwartet. Jedem geflüsterten Nein schrie ich ein Ja entgegen, jedem Senken meiner Augen wohnte ein Feuer inne, das nur er zu löschen vermochte.
Die Welt außerhalb des Flusses ist nur ein Nebelschleier an einem klammen Novembermorgen. Und auch das ist eine Lüge. Die Wirklichkeit – meine Wirklichkeit – existiert nicht in brennenden Wassern, sie lebt und atmet und wärmt mich wie ein bollernder Ofen im Winter. Und sie würde mich niemals verbrennen.
Ach, Brandon, ich wünschte, ich wäre nicht so dumm gewesen und hätte schon damals das in deinen Augen gesehen, was ich heute darin finde. Endlose Tiefe, echte Zuneigung und Wertschätzung, und eine Leidenschaft, die keiner törichten Spiele bedarf, weil sie rein und klar ist wie die Luft an diesem Wintermorgen.
Und doch kann ich nicht aufhören an die Zeit mit Willoughby zu denken. Nicht, weil ich sie zurückwünschte, nicht weil ich seine groben Berührungen vermisse, oder sein herablassendes Auftreten. Willoughby hat mich verändert, er hat meine dunkelsten Seiten zum Vorschein gebracht, aber er hat mich auch gelehrt, was Liebe wirklich ist.
Es ist Zeit, dieses Kapitel endgültig abzuschließen, doch dazu muss ich noch einmal zurück zum Anfang.
Wo also soll ich beginnen? Mit meinem kindischen Verhalten, dem Regen, dem Sturz auf der nassen Wiese? Mit dem ungehörigen Blick aus Willoughbys nachtschwarzen Augen, als seine Hände über meinen verstauchten Knöchel tasteten? Mit seinen starken Armen, die mich trugen, als wäre ich ein verwundetes Rotkehlchen? Und mehr war ich auch nicht. Ein dummes Vögelchen, das sich einbildete, ein Schwan zu sein.
Nein, ich weiß, wo ich beginnen muss. An dem Nachmittag, als Willoughby meine Schwester und mich zum Tee geladen hatte.
1
Die Uhr auf dem Kaminsims schlug zur vollen Stunde und mein Herz schlug die
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