2132 - Der Saltansprecher
bereits angezündete Laterne, die Finger der anderen bewegten sich, als zähle er etwas. Rufas trat automatisch einen Schritt zurück, als Tieger ihm entgegenstürmte. Mit seinen 2,20 Metern war der Junge selbst für einen Propheten ungewöhnlich groß, und seine Kraft übertraf bereits jetzt alle anderen im Dorf.
Vielleicht, dachte Rufas, will sein Körper die Schwäche seines Geistes wettmachen. „Wo warst du?", fragte Tieger. „Ich hab gewartet."
„Ich habe bei den Vorbereitungen geholfen. Schließlich ist heute ein großer Tag." Rufas bemerkte eine Bewegung und sah zur Tür. Lemna stieg gerade die Stufen herab. Das Gewand, das sie trug, war ebenfalls gelb, allerdings ohne Stickereien. Es symbolisierte die Familienzugehörigkeit und sorgte mit seiner Schlichtheit dafür, dass ihr Sohn, nicht Lemna selbst, im Mittelpunkt stand.
Aus den gleichen Gründen hatte Rufas ein weißgelb gestreiftes Gewand gewählt. Damit betonte er seine Nähe zur Familie, wirkte jedoch nicht zu aufdringlich. Hinter Lemna schloss Ters die Tür. Es überraschte wohl niemanden, dass er der Zeremonie fernblieb, wenngleich es eine grobe Unhöflichkeit gegenüber dem Komitee der Neun war. „Du konntest ihn also nicht überreden?", fragte Rufas, als Lemna neben ihn trat. „Nein. Er will zu Hause bleiben." Sie warf einen kurzen Blick auf Tieger, der ungeduldig stehen geblieben war und wartete, dann wechselte sie in die bellend kehligen Laute der Ehrensprache, die sie wie alle Erwachsenen der pfauchonischen Propheten beherrschte. „Erhoben mein Haupt, erschlagen sein Geist. Geliebt nur Ihr, stark wie ein Baum."
Rufas lauschte auf die Melodie ihrer Stimme, betrachtete die Körpersprache und ließ die Worte an sich vorüberziehen. Er hatte die Ehrensprache vor langer Zeit erlernt, aber ihre Schönheit und die komplexen Regeln ihrer Grammatik faszinierten und irritierten ihn immer noch. Lemna hatte mehr gesagt als diese wenigen Worte. Sie hatte ihm erklärt, dass sie im Gegensatz zu Ters ihre Ehre behalten hatte. Sie war über ihr gozin hinausgewachsen, er war daran zerbrochen. Jetzt empfand sie nichts mehr für Ters, nur noch für Rufas, den sie liebte und in dessen Nähe sie sich stark und groß wie ein Baum fühlte.
Er nickte, ohne zu antworten, wohl wissend, dass er der einfachen Schönheit dieses Satzes nichts entgegensetzen konnte. Tieger ergriff seine Hand. „Wir kommen zu spät." Rufas ließ sich mitziehen. Von allen Seiten strömten Pfauchonen dem Festplatz entgegen. Es lebten nur Propheten in diesem Dorf, aber wie in allen Berufen gab es manche, die talentierter waren als andere. Man bemerkte das an der Aura, die sie umgab und die zeigte, ob ein Prophet häufig oder selten gabraunizisz zu sich nahm.
Die Abgabe der Droge wurde vom Komitee der Neun stark reglementiert, und nur die Propheten, die in dem wirbelnden Chaos ihres Bewusstseins tatsächlich etwas Verwertbares erkennen konnten, wurden regelmäßig konsultiert. Die Besten unter ihnen entschieden sich häufig für ein Leben in der Abgeschiedenheit eines Klosters wo sie unter sich und getrennt von allen anderen Pfauchonen ihre Fähigkeiten steigerten.
Nur die Prinzenkrieger und ihre Familien, die Herrscher der neun Speichen der Galaxis, hatten Zugang zu den Klöstern, und selbst sie bewegten sich mit großem Respekt unter den Propheten. Als Junge hatte Rufas davon geträumt, seinem Herrscher, dem Herrn des Göttlichen Glücks, zu weissagen, aber seine bescheidenen Fähigkeiten hatten ihn in eine andere Richtung geführt. „Werd ich auch nach Ugazi riechen tun?"
Erneut war es Tieger, der ihn aus seinen Gedanken gerissen hatte. Weder Rufas noch Lemna hatten je herausgefunden, weshalb er glaubte, die Aura eines Propheten rieche nach diesem süßen Pflanzensaft. Vielleicht versuchte er damit auch nur, ein Gefühl zu umschreiben, das er nicht verstand. „Nein", antwortete Lemna. „Es dauert sehr lange, bis man eine Aura bekommt. Bis dahin vergehen viele Jahre. Aber eines Tages wirst auch du eine Aura haben." Rufas warf ihr einen überraschten Blick zu, sagte jedoch nichts. Für einen Mikhate-Fall hatte Tieger ein erstaunlich gutes Gedächtnis.
Er würde nicht vergessen, was seine Mutter an diesem Tag versprochen hatte.
Wieso, dachte er, weckt sie seine Hoffnungen, wenn wir beide wissen, dass er nach diesem Abend nie wieder gabraunizisz zu sich nehmen .wird? Er ließ seinen Blick auf Lemnas Gesicht ruhen, aber obwohl sie die Frage darin bemerken musste, wandte sie sich von
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