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22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

22 - Im Reiche des silbernen Löwen III

Titel: 22 - Im Reiche des silbernen Löwen III Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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sahen nun den Mirza an, was er tun werde.
    Er bohrte die Innenspitzen seiner Schuhbügel in die Flanken seines Pferdes, daß dieses vor Schmerzen sich bäumte und fast überschlug. Dann warf er die Hand verächtlich in die Luft und rief unter grellem, weithin schmetterndem Lachen aus:
    „Ein noch ganz anderes Ende! Alter Narr! Es gibt ja gar kein Ende! Welch ein Glück, wenn es so wäre, wie du sagst! Vielleicht aber hast du recht, denn uns fehlt nichts weiter, als nur das eine, die Allwissenheit! Versuchen wir es! Ist es ein Phantom, oder ist es Wirklichkeit! Reiten wir ihm zu, dem von dir angedrohten, von anderen aber heiß ersehnten Ende!“
    „Dem Ende – dem Ende!“ lachten die anderen ihm nach.
    Sie trieben ihre Pferde an und ritten, das Beit-y-Chodeh jetzt in einem weiten Bogen vermeidend, die grüne Alm hinab und verschwanden bald hinter dem Gebüsch der unten liegenden Gärten.
    Wir schauten ihnen nach, bis wir sie nicht mehr sahen. Dann wendete sich der Peder mir zu, indem er fragte:
    „Sind dir schon einmal derartige Menschen begegnet, Effendi? Sollte man sie nicht für etwas ganz anderes halten?“
    „Es ist mir an ihnen vieles rätselhaft“, antwortete ich.
    „Kannst du mir sagen, was?“
    „Wohl kaum! Es gibt Empfindungen, für welche die Sprache keine Worte hat. Es kommen uns Ahnungen, die wir uns nicht einmal in Gedanken deuten, noch viel weniger aber in hörbare Laute kleiden können. Es war mir, als ob Ahriman Mirza zwei verschiedene Leben besitze und zwei verschiedenen Reichen angehöre. Seine hörbare Rede gehörte dem einen an, dem anderen aber der Sinn, der in ihr lag, und der Geist, der sie ihm diktierte. Ich habe viele, viele Menschen kennengelernt, so einen aber noch nicht! Es gab, während er sprach, gewisse Stellen, an denen ich mir sagte, daß ich hätte mich hüten müssen, an mir selbst irre zu werden. Er riß mir Gedanken aus der Tiefe, von denen ich niemals eine Ahnung gehabt habe. Und er wußte sie so zu leiten und zu gestalten, daß es mir schwer wurde, sie als irrig zu erkennen. Wehe dem denkschwachen, vertrauensvollen Opfer, welches er sich erwählt! Es muß ihm unbedingt verfallen sein! Da taucht ein Bild vor meinen Augen auf, ein Bild, widerlich und schön zugleich. Aber es gehört nicht hierher in Tempelnähe. Könnte ich es dir zeigen, so würde in ihm wohl wenigstens einigermaßen die Antwort auf die Frage liegen, die du an mich gerichtet hast.“
    „Sprich immerhin! Es gibt kein Bild im Himmel und auf Erden, welches der Sonnenglanz, der jetzt von unserem Beit-y-Chodeh für heut Abschied nehmen will, nicht doch verklären könnte.“
    „Du sagst: im Himmel und auf Erden. Und dieses Bild bezieht sich allerdings auf beide. Ich habe daheim ein liebes altes Buch. Es ist gewiß vierhundert Jahre alt und von meinen Vorfahren auf mich gekommen. Es enthält nur Bilder, keinen Text, aber die Rückseiten wurden von den Händen der jeweiligen Besitzer fromm beschrieben. Denn diese Bilder wurden zur Erklärung und Veranschaulichung dessen gedruckt, was uns das Kitab el mukaddas (Heiliges Buch, Bibel) erzählt. Es ist für mich von unschätzbarem Wert. Ich habe es schon als Kind sehr oft mit meinen kleinen Händen aufgeschlagen und schaue auch noch jetzt so gern hinein. Es dünkt mich heut, als sei ich es selbst, dessen Gefühle und Gedanken, dessen Kämpfe, Niederlagen und Siege auf diesen Blättern abgebildet seien. Die Menschheit in ihrer Kinderzeit, dem Vater vertrauend und in dankbarer Liebe ihn verehrend. Des Knaben Trotz und Unbedachtsamkeit, die, wie einst Israel, nicht gehorchen wollte. Des Jünglings heißgeliebte Ideale, im Harfenton der Psalmen aufwärts erklingend. Hierauf der eigene Sinn, welcher verlangt, mit den Augen schauen zu müssen, was das Herz bisher ohne Einwand glaubte. Das immer suchende und nicht ermüdende Forschen nach Bestätigung. Der Kampf mit anderen Völkern, die andere Götter hatten. Die fürchterliche Gegnerschaft dessen, der einst zu Hiob kam, um ihn zu vernichten. Das feste Halten an dem Gottesglauben, trotz aller Siege, denen ich erlag. Der schwere, heiße Kampf des tapferen Judas Makkabäus, sich aus diesen Niederlagen wieder aufzurichten und, obwohl von seinen eigenen Brüdern verachtet und verdammt, die Höhe von Moria wieder zu ersteigen und sich die Liebe seines Volkes zu erringen. Wie war das so schwer, jawohl das aller-, allerschwerste. Doch glaube ich, ich habe es erreicht!“
    Der Peder hatte sich in das Gras niedergelassen. Ich

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