223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
wird ihnen keine Wache für den Marsch zugeteilt. Sie verlassen das Gefängnis, unschlüssig, wohin sie sich tatsächlich wenden sollen. Unter den ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitern aus der Mengergasse hat sich zu diesem Zeitpunkt bereits herumgesprochen, dass Linz, das befohlene Marschziel, nichts anderes ist als ein Tarnname für das KZ Mauthausen. Mauthausen aber, das ahnen sie, das wissen sie, bedeutet im April 1945 für sie den Tod, den Tod durch Verhungern oder den Tod durch Vergasung. Auf der anderen Seite wagen sie es aber auch nicht, sich entgegen dem Marschbefehl Richtung Osten zu wenden und sich damit in das unmittelbare Frontgebiet zu begeben. Entlaufene Zwangsarbeiter, jüdische obendrein, werden in Kampfgebieten von der Waffen-SS unbarmherzig gejagt und sofort liquidiert. Also bleibt Dr. Weisz und seiner Gruppe an diesem 25. April gar nichts anderes übrig, als sich langsam Richtung Westen zu bewegen. Das geht nur kurz gut, nur bis Groisbach, dort werden sie von der Gendarmerie festgenommen und weitergetrieben. Die kleine Gruppe schwillt rasch an, die Gendarmen verhaften auf dem Weg eine ganze Reihe von ungarischen Juden, die sich in den Dörfern versteckt gehalten haben, und treiben sie Richtung Westen. Am 25. April 1945 kommt Dr. Henrik Weisz im so genannten Judenauffanglager am Donauufer in Persenbeug an. Die Qualen des Marsches durch Wien und halb Niederösterreich sind für ihn und seine Familie zu Ende.
Am Vormittag des 25. April 1945 erhält der Gendarmerieposten Persenbeug, der gemeinsam mit dem lokalen Gericht in einem stattlichen Haus am Rathausplatz untergebracht ist, telefonisch Befehl vom Gendarmeriekreis Melk, ein Judenauffanglager zu errichten. Für Postenkommandant Engelbert Duchkowitsch ein denkbar unangenehmer Befehl. Mit schmalen, blassen Lippen und knirschenden Zähnen nimmt er ihn am Telefon entgegen, stehend und den Hörer gegen das rechte Ohr gepresst. Er, der einen Gutteil seiner 6 Gendarmen schon seit Tagen ins Umland Richtung Melk ausschickt, um erschöpfte, aus den Evakuierungsmärschen ausgescherte oder liegen gebliebene, versteckte Juden aufzustöbern und weiter nach Westen zu treiben, hätte als überzeugter Nationalsozialist andere Methoden bevorzugt, um mit dem Problem fertig zu werden, ganz andere. Aber Gendarmeriemeister Duchkowitsch schweigt submissest gegenüber dem vorgesetzten Kommando, presst seine Lippen aufeinander, bis sie blutleer sind, und denkt verärgert, dass er beileibe nicht dazu da ist, im letzten Moment noch diese dreckigen, verlausten Itzigs womöglich zu Hunderten zu beherbergen und zu verpflegen, hier in seinem Rayon. Nach der dienstlich kurzen Befehlsausgabe zwingt sich Postenkommandant Duchkowitsch, den Hörer nicht auf die Gabel zu knallen und das Telefon nicht vom Schreibtisch zu fegen. Er weiß, dass er im Ort nicht gerade sehr beliebt ist und durch die Errichtung eines Judenlagers nicht unbedingt beliebter werden wird. Die Persenbeuger haben schon vor Wochen, ja Monaten begonnen, sich vor den russischen, polnischen, ukrainischen, italienischen und französischen Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen ein wenig zu fürchten, die in und um den Ort für sie und für das Reich schuften, manche von ihnen schon seit 1941, die meisten davon in der Forstverwaltung der Habsburger, die als kriegswichtiger Betrieb eingestuft ist und Buchenholz für die Kampfflugzeug-Produktion liefert. Noch ist in und um Persenbeug Wehrmacht einquartiert, fast 2.000 Mann, aber kein Hiesiger weiß, wie sich die Zwangsarbeiter und Kriegsgefangenen verhalten werden, wenn einmal die Front über Persenbeug hinweggerollt ist. Es gibt eine Menge offener Rechnungen.
Für den Oberbürgermeister und ehemaligen Ortsgruppenleiter von Persenbeug, Josef Maier, ist der Befehl aus Melk ebenfalls ein harter Schlag, ja ein Affront. Er, der wie so viele andere Bürgermeister für ihre Gemeinden schon 1940, spätestens 1941 in den Gremien und Versammlungen verkündet hat, dass sein Ort, Persenbeug, judenfrei, »judenrein« sei, dem Führer sei Dank, sieht sich seit Jahren immer wieder Gerüchten ausgesetzt, selbst ein so genannter Judenstämmling zu sein. Diese Gerüchte können die kommunalpolitische Karriere kosten, im schlimmsten Fall sogar den Kopf, auf jeden Fall Umsatz im Geschäft des Bruders in Persenbeug, denn bei einem jüdischen Moden-Maier würde niemand mehr kaufen, Ehrensache. Wegen dieser mehr als unangenehmen, immer wieder auftauchenden Gerüchte musste er bereits die
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