223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
György Stroch beginnt sein Tagebuch am 28. August 1944, an dem Tag, an dem er endlich einen Bleistift ergattern kann. Der 13-Jährige schreibt auf Deutsch in ein kleines, dunkelblaues Schulheft, dessen Namensschildchen er nicht beschriftet. Als Zwangsarbeiter ist der Schüler aus Szolnok Mitte 1944 von Ungarn in die so genannte Ostmark verschleppt worden. Sein Rechtsstatus entspricht dem eines Sklaven. Sein Besitzer ist die Außenstelle Wien des Sondereinsatzkommandos (SEK) unter der Führung von SS-Obersturmbannführer Ferdinand Krumey. Im Juli 1944 gehören dieser SEK-Außenstelle 15.000 Menschen, die entgeltlich über die Arbeitsämter in Wien und Niederösterreich an Arbeitgeber in Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft verliehen werden. György Stroch wird mit seiner Großmutter, seiner Mutter und 3 Brüdern auf das Gut Antonshof bei Schwechat verschickt.
Wir sind schon einen Monat hier. Als wir ankamen, mussten wir zunächst Erbsen ernten. Dann mussten wir Zwiebelfelder hacken und jäten. Später haben wir geerntet und gedroschen. Heute bündeln wir das Streu. Die Tage vergehen rasch, mit Fliegeralarmen gewürzt. Wir sind hier 24. 6 sind davon Kinder, 4 kleine, nur mein Bruder und ich sind über 12 Jahre alt […]. Wir sind mit Italienern und Russen beisammen
. Tagwache ist jeden Tag um 5 Uhr früh, Arbeitsbeginn um 6, Arbeitsschluss um halb 8 Uhr abends. Sonn- und Feiertagsruhe wird den jüdischen Sklaven auf Gut Antonshof nicht gewährt.
Zwei so große Feiertage sind vorbei, die wir nicht feiern konnten. Wir mussten arbeiten. Neujahr und Jom Kippur
, notiert der Bub am 1. Oktober 1944. Seine Gedanken kreisen vor allem um das Essen, besser gesagt um die mangelhafte Ernährung, um den Hunger und um die besonders für ein Kind mehr als beschwerliche Zwangsarbeit. Unter dem 30. August 1944 notiert er:
Ich habe an der Dreschmaschine gearbeitet. Der Wind wehte und es gab furchtbaren Staub
. Am 7. Oktober 1944 schreibt das versklavte Schulkind in sein Heft:
Heute ist mein 14. Geburtstag. Ziemlich traurig. Die Kinder haben aus Wiesenblumen einen kleinen Strauß gebunden und mir damit gratuliert. Es hat mir sehr wohl getan, dass sie nicht auf mich vergessen haben. Die monatliche Zucker- und Marmeladeration ist schon aus
. Am 26. Oktober 1944 wird der kleinen, ungarisch-jüdischen Zwangsarbeitergruppe etwas befohlen, das György Stroch so trifft, dass er dies erst 5 Tage später niederschreiben kann und von Deutsch auf Ungarisch wechselt:
Über Anordnung des Herrn Ingenieurs müssen wir sofort in den Kuhstall übersiedeln. An unserer Stelle kommen ungarische Flüchtlinge. Wir sind in den Stall hinuntergegangen. Das war wirklich ein schlechter Platz. Voll von Mist. Die Kühe haben gemuht und die Jauche floss unter uns. Um uns herum liefen einen halben Meter lange Ratten. Es war wirklich furchtbar
. Der Schock sitzt so tief, dass der 14-Jährige nie wieder eine Zeile auf Deutsch schreiben wird. Über die Bevorzugung der ungarischen Neuankömmlinge verliert er in seinem Schulheft kein Wort, der Judenhass in der Ostmark scheint ihm wohl zu allgegenwärtig, zu alltäglich zu sein, als dass er ihm noch eine Bemerkung wert wäre. Die in den Kuhstall Verbannten wagen es zu protestieren:
Sofort sind zwei Personen zum Ingenieur gegangen. Sie haben ihm gesagt, dass wir dort nicht wohnen und schlafen können, da die Ratten nicht nur unsere Sachen nicht in Ruhe lassen, sondern auch unsere Nasen angreifen. Wir haben ihm so lange zugeredet, bis er gesagt hat, dass unter uns ein Magazinraum ist, wo Hafer, Weizen usw. liegen, dass man zusammenschlichten muss, um für uns Platz zu schaffen. Wir können dort wohnen, bis ein anderer Raum für uns gerichtet wird
. Mehr als einen Monat später ist die versprochene Kammer noch immer nicht fertig. Am 1. Dezember 1944 treffen 28 weitere ungarischjüdische Zwangsarbeiter, die vor allem aus Debrecen stammen, auf dem Antonshof ein, mit denen sich die Alteingesessenen den knappen Raum teilen müssen.
So warten seitdem statt 24 52 Juden auf die Stunde der Erlösung
, schreibt György Stroch. Mitte Dezember wird die armselige Unterkunft gegen 2 Uhr früh von Polizei gestürmt. Man lässt die jüdischen Sklaven Appell stehen und examiniert vor allem die Krankgemeldeten peinlich genau.
Bevor sie aber weggingen, haben sie uns eingeschärft, dass in Zukunft nur der zuhause bleibe, der wirklich krank ist, denn sonst wird er in ein Straflager gebracht
, notiert György Stroch. 2 Nächte später wiederholt
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