223 oder das Faustpfand - ein Kriminalfall
nur mehr aus Flicken und zerfällt ihm am Körper. Seine Wäsche ist so derangiert, dass auch Stopfen und Flicken nichts mehr nützt.
Wir haben gar keine Wintersachen, und wenn die Kälte kommt, dann werden wir sehr kritische Tage erleben
, befürchtet er am 1. Dezember 1944. Dem alten Mann fällt es schwer, auf dem Weg von und zur Arbeit Passanten anzubetteln.
Es ist interessant zu bemerken, dass immer Laci [= Koseform für Lászlo; M. W.] vielerlei bekommt und ich noch nirgends etwas bekommen habe, aber ich wünsche es auch nicht, da es furchtbar ist, etwas anzunehmen
, gesteht er am 22. November 1944 seinem Tagebuch. Einige Tage vor Weihnachten schreibt er:
Ich würde alles ertragen, nur wenn ich von meiner Rózsi was wüsste und wenn ich mich noch hier auf Erden mit ihr treffen könnte, dann könnte ich ruhig sterben. Was ist mit der Armen? Ich weiß es nicht. Ich beschäftige mich ständig mit ihr, obwohl ich dies niemandem sage, aber ich klage, wenn mich niemand sieht
. Zu diesem Zeitpunkt ist seine Gattin wohl längst nach Auschwitz deportiert worden. Ältere jüdische Frauen haben in diesem Konzentrations- und Vernichtungslager keinerlei Überlebenschance; sie wurden nach der Ankunft sofort vergast. Am Stephanitag notiert József Bihari in den Kalender:
Völlige Ruhe. Es hat minus 10 Grad. Das Zimmer wird nicht geheizt. Wir leiden viel. Das Mittagessen war auch miserabel, ungenießbar und dazu furchtbar wenig
. Am 30. Dezember 1944 verfasst der Einundsechzigjährige seinen vorletzten Eintrag:
Wenn ich von meiner Rózsi etwas wüsste, so wäre alles in Ordnung. Ich weiß wirklich nicht, was mein Ende sein wird, aber ich fühle, dass ich es nicht mehr lange durchhalte
. Am 14. Jänner 1945 notiert er in seinen Kalender:
Wir haben einen Bombentreffer erhalten
. Es ist seine letzte Tagebucheintragung, danach hat der Einundsechzigjährige wohl keine Kraft mehr zum Schreiben. Im März oder April 1945 wird er auf einen Todesmarsch Richtung KZ Mauthausen getrieben. Nach ein paar Tagen oder Wochen bleibt er völlig erschöpft liegen, wahrscheinlich irgendwo im Raum Melk, vielleicht in Gottsdorf. Er wird sich gewundert haben, dass er von den Wachen, es mögen Volkssturmmänner oder Waffen-SSler gewesen sein, nicht unverzüglich liquidiert, sondern von Gendarmen in das Auffanglager Persenbeug geschafft worden ist. Dort kommt er zwischen dem 25. April und dem 2. Mai 1945 an.
Der 10-jährige Tibor Yaakow Schwartz wird im Juni 1944 gemeinsam mit seiner Mutter, seinen beiden Schwestern und seinem älteren Bruder im ungarischen Sammellager Szaljol in Viehwaggons getrieben. Je 120 Menschen, vorwiegend Kinder und Frauen, werden in einen Waggon gepfercht. Zu diesem Zeitpunkt hat der in Puspokladany nahe Debrecen geborene, aber in Budapest aufgewachsene Bub bereits fast 3 Monate Ghetto- und Lagererfahrung in Ungarn hinter sich. Das dortige Regime erfüllt seine Pflichten gegenüber dem Bündnispartner Großdeutschland eifrigst. Bereits im Mai 1938 ist das erste einer ganzen Reihe von antijüdischen Gesetzen in Kraft getreten, die von Novellierung zu Novellierung immer schärfer werden, bis schließlich im Sommer 1941 eine Gesetzgebung gilt, die den Nürnberger Gesetzen zum Verwechseln ähnlich ist. In diesem Sommer beginnt die ungarische Fremdenpolizei KEOKH auch damit, jüdische Flüchtlinge, die sich vor Hitlers Greifkommandos nach Ungarn gerettet haben, in das frisch eroberte Galizien zu deportieren. Damit spielen sie bewusst deutschen Einsatzgruppen in die Hände, die diese Asylanten Ende August 1941 zu Tausenden bei Kamenetz Podolsk erschießen. Am 4. April 1944, nach dem Einmarsch der Wehrmacht im März 1944 beginnt die ungarische Gendarmerie, die jüdischen Bürgerinnen und Bürger ihres Landes zu erfassen, spürt mit großem Diensteifer auch noch die letzten Landjuden auf, zwingt Hunderttausende in primitive, provisorische Ghettos in Lagerhallen, Fabrikruinen, Ziegeleien und so weiter und stellt sie für die von Adolf Eichmann und seinem 200-Mann-Stab organisierten Deportationen bereit. Ab 27. April 1944 beginnen die ungarischen Viehwaggons in Massen nach Auschwitz zu rollen.
Der Zug aber, in dem Tibor Yaakow Schwartz und weitere rund 2.400 Unglückliche einem ungewissen Ziel entgegenfahren, ändert im tiefsten Ungarn unvermutet die Richtung. Statt auf die Hölle von Auschwitz rollt der Sklaventransport auf Budapest zu. Die Bedingungen in den völlig überfüllten Waggons sind unerträglich. Neben der drangvollen Enge
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