226 - Das Schädeldorf
Seebeben. Was immer es ist, es besitzt eine unglaubliche Energie. In all den Jahren auf Madagaskar habe ich so etwas noch nicht erlebt!«
Obwohl sich im Osten ein strahlend blauer Himmel spannte, nickte Matt und hastete zum Ruder. Während er Aruula über die Situation aufklärte, betätigte er einige Hebel und Knöpfe. Der Motor der Yacht heulte und spuckte. Ein Ruck ging durch das Schiff, und sie jagten in gleichmäßiger Geschwindigkeit der Küste entgegen.
Yann stand immer noch an der Reling. Matt suchte abwechselnd an der Küste nach dem Flussdelta und im Osten nach Zeichen der bevorstehenden Naturgewalt. Doch von beiden keine Spur. An seiner Seite richtete Aruula das Fernrohr auf das ockerfarbene Uferband. Doch auch sie fand nichts, was auf das Delta schließen ließ.
Nach einer halben Stunde kam Wind auf. Ein Dunstschleier schob sich zwischen Himmel und Meer und das Wasser nahm eine blau-graue Farbe an. Als Matts Blick wieder einmal nach Osten wanderte, sah er sie: Eine schwarze Wand lag am Horizont über dem Meer. Sie reichte bis unter den Himmel und schob sich in einem rasanten Tempo auf ihr Schiff zu. Matt schluckte. Noch fester packte er das Ruder. Fast so, als könne er dadurch die Yacht beschleunigen.
Nach einer weiteren Stunde war die Küste zum Greifen nahe und dennoch unerreichbar: Felsen und Klippen ragten aus dem Meer. Nicht besonders hoch, aber glatt und scharfkantig wie Glas. Die Brandung zerschellte in meterhohen Wasserkaskaden an ihnen. Genauso würde es auch ihrer Yacht ergehen, wenn Matt sie noch näher an den Landstreifen heran brachte. Aber wohin sollte er sie steuern? Versuchen, vor dem Taifun nach Westen zu fliehen? Keine Chance! Oder ihm direkt entgegen in der Hoffnung, dass sich dieses verfluchte Flussdelta doch noch zeigen würde?
Aruula gab ihm die Antwort: »Ich sehe Bäume«, rief sie, »und einen silbernen Streifen, der Richtung Norden führt! Das muss es sein, Maddrax! Das Delta!«
Ohne zu zögern drehte Matt die Yacht in die von Aruula angezeigte Richtung. Sofort wurden sie langsamer, denn sie fuhren nun gegen den Sturm. Inzwischen war das Wasser rabenschwarz. Aufschäumende Gischt versperrte am Bug jegliche Sicht. Wind und Wasser peitschten ihnen ins Gesicht. Blitze zuckten vom Himmel. Donner krachten von allen Seiten auf sie nieder. Es klang, als wären sie in eine Steinlawine geraten. Wellen prallten gegen das Schiff. Es wurde immer schwieriger, auf den Beinen zu bleiben. Und noch schwieriger, die Richtung zu halten.
Yann hatte sich in der Kajüte in Sicherheit gebracht. Matt nahm Aruula zwischen sich und das Ruder. Mit wenigen Handgriffen schlang er ein Seil um ihre beiden Körper und befestigte es am Lenkgestänge. Er warf einen Blick auf den Kompass: Noch waren sie auf Kurs!
Als er wieder aufschaute, hatte sich die schwarze Wand in eine glühende Riesenwalze verwandelt. Es war, als beherberge sie sämtliche Gewitter dieser Welt. Sie schien Wasser und Feuer zu spucken. Und Wolkenfontänen, die ihr vorauseilten. Sie wirbelten nach oben, nach unten, im Kreis. Vereinigten sich zu Gebirgen und stürmten heran. Haushohe Wellen trieben sie vor sich her.
»Allmächtiger!«, keuchte Matt. Er riss das Ruder herum. Die Yacht neigte sich nach backbord. Matt und Aruula wurden herumgerissen, doch das Sicherungsseil hielt sie am Steuer. Ächzend richtete sich ihr Gefährt wieder auf. Am Bug gähnte tief schwarze Nacht und steuerbord näherten sich die haushohen Wellen. Matt und Aruula umklammerten das Ruder. Dicht aneinander gedrängt, lenkten sie das Boot unbeirrt in die Richtung, in der sie den Zugang zum Mekong-Delta vermuteten.
***
Mai 1975, Krachéh, Kambodscha
Lann Than stand bis zu den Knien im Wasser und betrachtete sein Boot: Säcke mit Verpflegung, Bündel mit Habseligkeiten und Kanister mit Benzin und Trinkwasser waren verstaut. Hinten am Ruder blieb genügend Platz, um seine Beine während der langen Reise ausstrecken zu können. Über den vorderen Teil hatte er Segelstoff an den Rändern des Bootes befestigt: darunter lagen Matten und Decken für seine Frau und die beiden Kinder. Alles war bereit!
Nur Thik Gieng nicht. Sie saß auf dem kleinen Steg neben der Hütte und schaute ihn vorwurfsvoll an. »Warum nicht Laos? Warum nicht gemeinsam mit meiner Familie nach Laos gehen?«
Lann seufzte und wandte sich um. »Du hast doch den Brief gelesen! Sie patrouillieren bereits an den Grenzen. Wenn diese Listen wirklich existieren, werden sie uns dort festnehmen. Wir haben
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