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Shukra, der ihn eindringlich anstarrte. »Ich habe dir doch gesagt, dass du ein Köder warst. Und man hat dich geschluckt. Deshalb bin ich jetzt hier, um dir zu sagen, was du als Nächstes tun sollst. Lakshmi hat dich auf die Strecke zwischen ihrer Anlage hier und dieser Küstenstadt angesetzt, stimmt’s?«
»Stimmt«, antwortete Kiran. Er sah ein, dass er seiner ersten Bekanntschaft auf der Venus wohl nach wie vor seine Dienste schuldete, aber gleichzeitig wurde ihm langsam allzu deutlich, wie gefährlich es war, beide Seiten gegeneinander auszuspielen. Er wollte Lakshmi in keiner Weise verärgern; andererseits hatte er den Eindruck, dass mit Shukra auch nicht zu spaßen war. Im Moment konnte er ihn tatsächlich unmöglich abweisen. »Es gibt Lieferungen in beide Richtungen, aber wir sehen die Ladung nicht.«
»Ich will, dass du herausfindest, worum es sich handelt. Steig tiefer in die Sache ein, und sag mir, was du herausfindest.«
»Wie soll ich Kontakt aufnehmen?«
»Überhaupt nicht. Ich nehme Kontakt zu dir auf.«
Und so hielt Kiran von nun an mit einem Gefühl tiefsten Unbehagens die Augen offen, wenn sie nach Vinmara fuhren. Deutlicher als je zuvor war ihm bewusst, dass die Transportmannschaft nicht wissen sollte, was sich in den Geländewagen befand. Bei jeder Fahrt gab es Wachleute, und das Büro im Zentrum von Vinmara war für Außenstehende ebenso unzugänglich wie die zahlreichen Anlagen in Kleopatra. Die Geländewagen setzten in einer Ladebucht zurück und koppelten sich direkt an das Gebäude an. Nach einer Weile fuhren sie wieder los – das war alles. Einmal, als besonders heftige Schneefälle sie mitten auf der Strecke aufhielten, belauschte Kiran ohne hinzusehen einen der Wachleute in ihrem Fahrerhäuschen bei einem Telefongespräch mit Leuten, die anscheinend hinten im Laderaum saßen. Sie sprachen Chinesisch, und später ließ Kiran sich von seiner Brille die Aufzeichnung des Gesprächs übersetzen:
»Ist bei euch hinten alles klar?«
»Es geht uns gut. Und ihnen auch.«
Ihnen? Wie dem auch sei, es war etwas, das er Shukra erzählen konnte, falls dieser wieder auftauchte.
Zufällig waren sie unten in Vinmara, als der große Schneesturm schließlich aufhörte. Die Luft klarte auf; die Sterne schienen in all ihrer Pracht am schwarzen Himmelszelt. Natürlich zogen sie sich wie alle anderen in der Stadt Raumanzüge an und stiegen auf die kahlen Hügel draußen vor den Toren. Die beständige Schnee-, Graupel-, Hagel- und Regenflut hatte drei Jahre und drei Monate lang angehalten. Jetzt wollten alle wissen, wie die Venus unter dem Sternenhimmel aussah.
Praktisch die gesamte sichtbare Landschaft war mit Schnee bedeckt und glitzerte im Sternenlicht. Viele schwarze Felsspitzen stachen aus dem leuch tenden Weiß hervor – das Gebiet um die Stadt herum war vorher wahrscheinlich mörderisch zerklüftet gewesen –, sodass sich über ihnen der schwarze, von hellen Sternen übersäte Himmel spannte, während unter ihnen die weißen Hügel mit ihren spitzen schwarzen Vorsprüngen lagen; das eine sah wie das Fotonegativ des anderen aus.
Und jetzt konnte man auch die Luft draußen atmen. Sie war natürlich klirrend kalt, sodass die Leute aufschrien, als sie die Helme abnahmen, und Frostwolken sich vor ihren offenen Mündern bildeten. Atembare Luft – eine Stickstoff-Argon-Sauerstoff-Mischung bei siebenhundert Millibar und zweiundvierzig Grad unter dem Gefrierpunkt. Es war, als atmete man Wodka.
Der Schnee unter ihren Füßen war zu fest, um Schneebälle daraus zu formen, und die Leute schlitterten in alle Richtungen und fielen hin. Auf der Hügelkuppe oberhalb der Stadt konnten sie weit in alle Richtungen sehen.
Es war um die Mittagszeit, und über ihnen hing inmitten der Sterne der schwarze Kreis der verdunkelten Sonne. Ein Scherenschnitt am Himmel – der Sonnenschild, der kein Licht durchließ –, mit Ausnahme des heutigen Tages, für den eine Entfinsterung angesetzt war. Solche Entfinsterungen gab es nun schon seit einer Weile einmal monatlich, um den Planeten wieder auf eine für Menschen angenehme Temperatur zu erwärmen, doch bislang hatte niemand sie von der Venus aus beobachten können, weil Regen und Schnee die Sicht versperrt hatten. Jetzt würde es eine Entfinsterung geben, bei der man tatsächlich zuschauen konnte.
Viele Leute setzten ihre Helme wieder auf; langsam wurde ihnen klar, wie kalt es wirklich war. Kirans Nase fühlte sich taub an, während seine erfrierenden Ohren noch
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