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2312

2312

Titel: 2312 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kim Stanley Robinson
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brannten. Es hieß, dass man gefrorene Ohren einfach abbrechen konnte, und Kiran glaubte es. Musik kam aus Lautsprechern unten in der Stadt, etwas Blechernes mit Becken und Schellen, sehr slawisch, sehr brutal und laut.
    Dann erschien auf dem Sonnenschild über ihnen mit einem Mal dicht am Rande der schwarzen Scheibe eine kreisrunde funkelnde Linie. Obwohl es sich bei diesem Jahresring nur um einen dünnen Faden hellgelben Lichts handelte, einen zerbrechlichen Reif aus Feuer, erleuchtete er dennoch die weißen Hügel und die Muschelstadt und die silberne See im Süden und die Frostwolken, die aus den jubelnden Kehlen aufstiegen. All das erstrahlte nun in einem bronzefarbenen Licht, das die Erinnerung an all die Sonnenzeiten wachrief, die sie jemals erlebt oder sich erträumt hatten. Der brünierte Glanz war wie das Licht des Lebens selbst, ein Licht, das sie beinahe vergessen hatten und das die gelbe Luft ihnen nun zurückgebracht hatte.
    Nach einer eisigen Stunde wurde der Feuerreif dünner und dünner, verdunkelte sich von innen nach außen, bis die Sonnenscheibe wieder vollkommen schwarz war. Die kreisförmige Jalousie hatte den kleinen Spalt geschlossen. Die verschneite Landschaft verdunkelte sich und nahm erneut ihren alten blassen Schimmer an. Die Sterne traten wieder in den Vordergrund. Die tiefe Nacht kehrte in all ihrer düsteren Vertrautheit zurück. Unmittelbar über der schwarzen Sonnenscheibe glänzte ein heller weißer Planet, klein aber beständig: der Merkur, teilte man Kiran mit. Sie sahen den Merkur von der Venus, und er schimmerte wie eine Perle aus Diamant. Und dort über dem westlichen Horizont hingen auch die Erde und Luna, ein bläulicher Doppelstern. »Wow«, sagte Kiran. Tief in seinem Innern schien etwas wie ein Luftballon anzuschwellen. Er musste tief durchatmen, sonst würde er noch platzen.
    Aber die Kameraden von seinem Trupp zogen ihn am Arm. »Erdenjunge! Erdenjunge! Bye-bye, Miss American Pie! Wir müssen schnell zurück in die Stadt, es gab eine Panne bei einem Geländewagen, Lakshmi braucht uns auf der Stelle!«
    »Geht voran!«, rief Kiran und folgte ihnen den Hang hinab zu den offen stehenden Toren Vinmaras.
    Sobald sie durch das Tor waren, ließen sie sich telefonisch zu dem Geländewagen lotsen, mit dem es Probleme gab. Er sah genauso aus wie die, mit denen sie selbst immer fuhren. Der Fahrer und drei Sicherheitsleute standen mit zutiefst unglücklichen Mienen daneben. Der Wagen stand völlig still, und ein Teil der Lieferung musste so schnell und unauffällig wie möglich ins Büro im Stadtzentrum geschafft werden. Kiran stand mit seinen Kameraden in einer kurzen Schlange und nahm eine Art großen, flachen Koffer entgegen, der ihm von einem der Sicherheitsleute durchgereicht wurde. Ihm kam in den Sinn, dass das vielleicht seine Gelegenheit war herauszufinden, was sie transportierten. Kurz darauf gingen sie wie Gepäckträger in einer kleinen Reihe durch die Straßen.
    Die Stadt war praktisch verlassen, ihre Bewohner feierten immer noch draußen auf dem Hügel. Der Koffer, den Kiran trug, wog etwa fünf Kilo; für seine Größe war er nicht besonders schwer. Er war mit einem Zahlenschloss am Schließband versehen, wodurch er an eine gepanzerte Aktentasche erinnerte. Es war nicht weit bis zum Büro. Die eigentlichen Scharniere des Koffers wirkten nicht besonders stabil, und er fragte sich, was geschehen würde, wenn er ihn versehentlich auf die Scharnierseite fallen ließ.
    Aber dann tauchten die drei Wachleute aus dem liegengebliebenen Geländewagen auf und schrien: »Lauft! Lauft! Sofort ins Büro!«, wobei sie furchtsam und mit gezogenen Waffen über die Schultern blickten. Alle rasten los, und Kiran, der den anderen folgte, nutzte das Durcheinander, um den Koffer anders anzupacken, sodass die Scharniere zur Seite zeigten. Als seine Freunde um eine Ecke bogen und eine schmale Gasse entlangrannten, tat er so, als stolperte er, und knallte den Koffer fest gegen eine Hausecke, genau an den Scharnieren.
    Der Koffer hielt.
    »Oh, Scheiße! Hast du sie kaputt gemacht?«, rief jemand von hinten – einer der Wachleute –, ein großer Chinese, der sich nun hoch aufragend und mit entsetzter Miene vor ihm aufbaute.
    »Was denn, sind das Eier?«, fragte Kiran beim Aufstehen.
    »So was Ähnliches«, sagte der Wachmann, hob den Koffer auf und drückte auf dem Zahlenschloss herum. »Und wenn sie kaputtgegangen sind, sollten wir lieber die Stadt verlassen.« Der Deckel ging auf, und darin

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