Ein gutes Herz (German Edition)
1
THEO
All die stumpfsinnigen, schmalspurigen Märchen von der großen Abrechnung über das Leben, auf die man sich im Tod gefasst machen könne, entsprachen der Wahrheit – das erfuhr Theo van Gogh am eigenen Leib (na ja, Leib hier nur im übertragenen Sinne). Es war ihm ein Rätsel, wie die Lebenden unten auf der Erde diese Wahrheit entdeckt hatten.
Die Entscheidungsträger hier oben waren kindische Moralisten. Und sie gelangten nach jahrelangem Zögern – man konnte ihnen wahrlich nicht den Vorwurf machen, dass sie übereilte, fahrlässige Beschlüsse fassten – zu der Überzeugung, dass es an der Zeit sei, Bilanz zu ziehen. Theo fand das eigentlich auch.
Als dieser Scheißmarokkaner von einem Schuss ins Bein niedergestreckt wurde, befand sich Theo irgendwo oberhalb vom Oosterpark, rund dreißig Meter über dem Boden, einer Möwe gleich, die nahezu reglos im Wind lag. Die Bäume waren kahl, das Gras farblos. Die Polizisten sprangen vor Angst hin und her, schrien sich gegenseitig an, brüllten in Mikrophone und Handys. Theo van Goghs Mörder wollte sterben, konnte seinem Leben jedoch nicht eigenhändig ein Ende machen. Das verbot ihm sein Gott.
Es war irre, das aus der Distanz wahrzunehmen. Schwerelos schwebte Theo über seiner Stadt. Noch hatte die Panik nicht vollständig Besitz von ihm ergriffen. Die Schmerzen waren unvergleichlich – allerdings hatte er zeitlebens eigentlich auch keine wirklichen körperlichen Schmerzen kennengelernt. Auf das hier war er nicht gefasst gewesen. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass ihm so etwas zustoßen könnte.
Er war in voller Fahrt an Mohamed Boujeri vorbeigeradelt, hatte ihn aber aus dem Augenwinkel wahrgenommen und war sich der Anwesenheit dieses Bartaffen in seinem Sackkleid bewusst gewesen. Ein angehender Fanatiker mit jünglingshaftem Flachsbärtchen, der auf dem Radweg stand und auf irgendeinen anderen Bartaffen wartete – das hatte Theo im Vorüberfahren gedacht, als er einen kurzen Blick mit seinem Mörder wechselte. Ja, sie hatten sich einen Moment lang in die Augen geschaut. Aber er hatte den Bartaffen gleich wieder aus seinen Gedanken verdrängt. Es gab neuerdings zu viele von ihnen in der Stadt. Wahnsinnige, die den Umzug von der Wüste in die schmutzige Stadt nur dadurch ertragen konnten, dass sie sich den Werten und Normen von Nomaden aus dem siebten Jahrhundert unterwarfen. Okay, jedem das Seine. Aber anderer Leute Verrücktheiten duldeten diese Verrückten nicht.
Es wäre ein ziemliches Understatement, zu sagen, er müsse noch oft an diesen Tag denken, denn dieser Tag war immer gegenwärtig, ebenso wie die Erinnerung an die Schmerzen. Es war ihm in den vergangenen Jahren nicht gelungen, sich von jenem Novembermorgen zu befreien. Grau, trist, kalt. Die alten Backsteine der Gebäude in Amsterdam-Ost waren an solchen Tagen farblos. Schon häufiger war ihm durch den Kopf gegangen: Wenn man hier an so einem Morgen die Augen aufschlägt, würde man sich am liebsten vom Dach stürzen. Berlin, London, Paris, New York kamen morgens ganz anders in die Gänge. Wie erwachende Riesen, die sich wohlig räkelten und streckten. Theos Stadt dagegen tauchte mit verquollenen Augen und stinkenden Achseln aus der Nacht auf. Wie ein kleiner Büroangestellter mit feuchten Wunschträumen und müffelnden Fingerspitzen, die ihn daran erinnerten, wo er sich stundenlang gekratzt hatte.
Theo musste auch ins Büro. Er hatte seinen großen Spielfilm über Pim Fortuyn geschnitten und wollte ihn dem Produzenten zeigen. Wenn er arbeitete, nahm er sich an die Kandare. Da lebte der kleine Kalvinist in ihm auf, der Spießbürger, der nichts als hart arbeiten wollte und sich freute, wenn ihm sein Kind stolz ein gutes Schulzeugnis zeigte. Seine Freunde aber nahmen ihm den Bohemien ab, den er schon sein ganzes Erwachsenenleben lang spielte, glaubten ihm, wenn er bei ihnen am Tisch unflätig über das Bürgertum pöbelte.
Vielleicht war er schon früher gestorben. Als diese somalische Prinzessin mit ihrer koketten Verletzlichkeit und ihrem opportunistischen Kampfgeist in sein Leben trat. Oder als er nicht zur Filmhochschule zugelassen wurde. Irgendwo war es schon viel früher schiefgelaufen.
Ein Scheißmarokkaner. Ein Niemand. Wusste nicht den Bruchteil dessen, was Theo wusste, als er noch auf Erden weilte. Dieser Wicht tat, was Theo sich eines Tages selbst hatte antun wollen. Dieser Ziegenficker maßte sich an, was Theo sich selbst als letzte Ehre vorbehalten hatte. Und gelangte damit
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