235 - Auf dem sechsten Kontinent
worden, wie Nanette wusste. Pierre hatte Tage an der Außenhülle verbracht und sein Leben riskiert, um die Reparaturen zu erledigen.
Nanette humpelte an der breiten Treppe des Turms vorbei und näherte sich der Blechumrahmung, die das unterirdische Reich des Doms vor den Witterungseinflüssen schützte. Christian und Leclerc saßen nach wie vor an den Handpumpen. Nanette lächelte ihnen kokett zu, bevor sie die Wendeltreppe hinab stieg.
Kaum hatte sie das zweite Untergeschoss erreicht, gab sie ihre gebückte Haltung auf, schob sich in ihre Wohneinheit und ließ sich quietschvergnügt aufs Bett fallen. Sollten sich doch die anderen um die Arbeit kümmern. Sie war für so eine Plackerei nicht geschaffen.
***
Die Aufregung war groß, als Angehörige anderer Stationen zum Dom fanden. Gemäß der alten Aufzeichnungen hatte man während der ersten hundert Jahre des Impaktwinters miteinander Funkkontakt gehalten; nach Problemen mit der Energieversorgung war man aber allmählich davon abgegangen. Die Dom-Bewohner wussten, dass es eine Vielzahl weiterer Stationen in der Antarktis gab, in denen man Überlebende des langen Winters vermutete. Doch sie hatten viel zu viel mit sich selbst zu tun gehabt. Die Essensversorgung war das größte Problem gewesen, und erst dank der Errichtung unterirdischer Wachstumstanks hatte sich die Situation einigermaßen entspannt. Samen und Keime unterschiedlichster Obst- und Gemüsearten hatten ausreichend zur Verfügung gestanden. Sie sollten einmal Versuchsreihen dienen, über deren Zweck man nichts mehr wusste.
»… Russen!«, sagte Pierre. Seine Wangen waren gerötet vom Schnaps, den Davide zur Feier des Tages verteilt hatte. »Ihre Station heißt Wostok und ist mehr als dreihundert Kilometer von hier entfernt. Und stell dir vor: Sie haben riesige Mengen an Rohstoffen eingelagert. Diesel und Öl, so viel das Herz begehrt!«
»Toll«, murmelte Nanette ohne große Begeisterung.
»Sie haben ähnliche Probleme wie wir; das Eis schmilzt ihnen unterm Hintern weg, und sie planen sicheres Gebiet aufzusuchen. Sie waren ganz aufgeregt wegen unseres Kartenmaterials. Stell dir vor: In nicht einmal einem halben Jahr werden wir von hier wegsiedeln. Gemeinsam!«
»Jetzt komm schon ins Bett, Pierre. Ich versteh ja, dass du aufgeregt bist; aber darüber kannst du dich morgen auch noch freuen. Wärm mich lieber auf, ich friere…«
»Du verstehst es nicht, wie?«, fragte ihr Mann, plötzlich ernst geworden. »Alles wird sich ändern. Wir geben die Isolation auf und machen uns auf die Suche; wir werden erfahren, ob es weitere Überlebende der Katastrophe gibt. Wir stehen an einem Neuanfang, Nanette! Vielleicht hat die Menschheit doch noch eine Chance.«
»Meine Füße sind ganz kalt. Massier sie bitte. Ja, so ist es gut…«
»Wir werden es schaffen, ganz sicher! Wir ziehen aus diesem Drecksloch weg, weg von Stürmen und Eis und Schnee, wir finden uns einen Ort, an dem das Eis vollends abgetaut ist, und fangen ganz von vorne an.«
»Natürlich schaffen wir es, Pierre. Aber jetzt mach dich gefälligst auf die Suche nach einem ganz speziellen Ort auf meinem Körper. Nach meinem privaten Südpol…«
Ihr Mann grinste sie an und warf sich auf sie.
Er war ein guter Junge, und wenn er ausreichend Sex erhielt, dann fraß er ihr aus der Hand. Er hatte ihr dringend benötigte Kosmetika aus anderen Wohneinheiten zusammengestohlen, einen Haufen Filme, Zigaretten, frische Decken, und ihr Zugang zu den Nahrungstanks verschafft. Er würde auch weiterhin das tun, was sie wollte. Solange er seine Streicheleinheiten erhielt…
***
Es war wie ein Wunder. Nicht nur die Bewohner der einstmals russischen Station Wostok hatten sich auf den Weg gemacht; nur wenige Wochen später trafen Dom-Bewohner bei der Erkundung eines möglichen Siedlungsgebietes auf Menschen, die sich »Australier« nannten und aus den Stationen »Law Dome« und »Casey« stammten.
Ob Australier, Russen oder Domländer – sie alle sprachen dieselbe Sprache: Englisch. Zwar in unterschiedlichen Ausprägungen und Betonungen – doch die Verständigung untereinander fiel ihnen nicht schwer.
Nanette verschwendete ihre Gedanken nicht weiter an derlei Dinge. Sie hatte ganz andere Probleme. Die Eigendynamik der Entwicklung passte ihr ganz und gar nicht. Mehr als vierhundert Menschen hatten während der letzten Monate zueinander gefunden. Sie tauschten sich aus, schlossen Freundschaften, gebaren Pläne, die allesamt nach verdammt viel Arbeit rochen.
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