317 - Die letzten Stunden von Sodom
Worte, aber er vermutete, dass Lot die Nachbarn zu bestechen versuchte – wie der Lot in der Bibel, der ihnen allen Ernstes seine Töchter angeboten hatte, weil ihm das Gastrecht heilig war und er die Engel des Herrn keiner Gefahr aussetzen wollte.
Allmächtiger, dachte Matt. In der Bibel steht wirklich, dass...
Xij übersetzte, was die Leute vor der Tür sagten: »Wir wollen sie sehen, Lot! Schick sie vor die Tür! Wenn du sie uns nicht zeigst, melden wir dich dem Hauptmann!«
Matt sah Xij mit Grao tuscheln. Dann riss sie die Tür auf. Grao packte Lot am Kragen und zog ihn in sein Geschäft hinein. Die Tür knallte zu, doch der Mob wollte nicht verstummen: Die Leute schlugen gegen das Holz und riefen weiterhin Lots Namen.
Matt schüttelte den Kopf. »Es hilft nichts, wir müssen einen Ausbruch riskieren. Vielleicht können wir sie überrumpeln und –«
Xij legte ihm die Hand auf den Arm. »Lass mich mal machen, ich habe eine Idee«, sagte sie. Dann stellte sie sich dicht vor die Tür und rief auf Hebräisch: »Eure Stadt ist dem Untergang geweiht! Feuer und Schwefel werden sie vernichten. Ihr habt nicht mehr viel Zeit. Wir sind keine gewöhnlichen Besucher, sondern Boten des Herrn, die auf die Erde gekommen sind, um alle Gerechten zu warnen: Verlasst die Stadt! Sie wird bald brennen und im Boden versinken.«
Lot erbleichte. »Was?« Seine Gattin legte erschreckt eine Hand auf den Mund und schaute in die Runde. Die Töchter, die vielleicht vierzehn, fünfzehn Jahre alt waren, fingen an zu weinen.
Xij nickte Grao zu, dann stieß sie die Tür auf. »Jetzt!«
Hermons beleibte Gestalt wurde schlanker und wuchs, bis sie zwei Meter zwanzig groß war. Eine weißblonde Mähne spross, wie im Zeitraffer, aus seinem Schädel hervor und umwogte seine nun engelhaft edlen Züge. An seinem Rücken breitete sich ein Schwingenpaar aus, und seine Kleider mutierten zu einem langen weißen Gewand, das in hellem Glanz erstrahlte.
Matt erkannte die Engelsgestalt wieder: Es war jene, die Grao schon bei den Dreizehn Inseln angenommen hatte, um den Padre der Schattenkaravelle zu täuschen. Das also hatte Xij ihm vorhin zugeflüstert.
»Gütiger Gott!«, rief Lot fast hysterisch aus. »Himmlische Mächte – unter unserem Dach!«
Die Kinnlade seiner Gattin sank herab. Die Töchter falteten mit verzücktem Blick die Hände. Der Mob auf der Straße war verstummt. Für Sekunden starrten die Leute die Erscheinung an, dann rannten sie schreiend auseinander.
Xij zog die Tür ins Schloss und Grao nahm wieder Hermons Gestalt an.
»Wir müssen fort, Lot«, sagte Matt und ließ Xij übersetzen. »Hast du ein großes Fuhrwerk, auf das wir alle passen?«
»Gewiss, Herr.« Lot nickte eifrig.
»Dann packt eure Sachen und spannt die Pferde an. Wir werden die Stadt mit euch verlassen, um euch zu retten.«
»Und dann?«, fragte Lot ehrfürchtig.
»Dann kehren wir in die himmlischen Sphären zurück.«
***
Eine halbe Stunde später war alles für die Abreise bereit. Besorgt hatte Matt immer wieder Ausschau gehalten, ob einer der Nachbarn die Garde informiert hatte. Aber Graos Vorstellung hatte sie wohl überzeugt, es mit übernatürlichen Wesen zu tun zu haben – und wer zog schon gern den Zorn Gottes auf sich?
Zusammen mit Lots Angehörigen bestiegen sie das Fuhrwerk, um sich zum Stadttor durchzuschlagen. Matt und Xij hatten sich mit den Umhängen vermummt. Grao sah ähnlich aus, doch sein »Mantel« bestand aus der Materie seines Körpers.
Es wurde eng auf der Ladefläche; Lots Familie hatte das Nötigste verladen, was sie brauchte, um sich anderswo, vermutlich in Hebron, eine neue Existenz aufzubauen. Da die Pferde ausgeruht waren, kamen sie gut voran. Bis zu dem Augenblick, da sie die Gasse passierten, in der die Asseln zum ersten Schlag ausgeholt und sich den Leichnam des Fleischers Nemor geholt hatten.
Als sie auf den Marktplatz einbiegen wollten, kreischte urplötzlich ein Weib: »Ah! Ich spüre das Böse!«
Matt erkannte die Seherin. Mehrere Gardisten und eine schlanke Frau begleiteten sie. Hatte Melchior ihr befohlen, seine Feinde aufzuspüren, um ihr eigenes Leben zu retten?
Lot musste das Gespann zügeln, wenn er nicht in die Menschen preschen wollte, sie sich neugierig hinter den Gardisten drängten.
Matt sah die Angst in den Gesichtern von Lots Familie. Und er wusste, dass er sie nicht in Gefahr bringen durfte. Allein schon deshalb, fuhr es ihm durch den Kopf, weil sie laut der Bibel aus Sodom entkommen, anstatt an
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