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36 - Das Vermächtnis des Inka

36 - Das Vermächtnis des Inka

Titel: 36 - Das Vermächtnis des Inka Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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gegeben, obgleich unsere Kunst eine andere als die eurige war.“
    „Und die Wissenschaft?“
    „Ich bin ein Knabe, in der Einsamkeit der Berge aufgewachsen, und kann nicht von dem sprechen, was ihr Wissenschaft nennt. Aber gelehrte Leute hatten auch wir. Denke nur an die Kipu-Camayos, von denen du wohl gehört haben wirst.“
    „Ja, das waren eure Schriftgelehrten; aber eure Schrift bestand nicht aus Buchstaben und Wörtern wie die unsrige, sondern aus Schnüren, in welche Knoten geknüpft wurden. Wie ist es möglich, solche Schnüre so zu lesen, wie wir unsere Bücher, Zeitungen und anderen Schriften lesen!“
    „Das war freilich eine nicht leichte Kunst, und nicht jeder konnte wie bei euch das Lesen und Schreiben erlernen. Ein solcher Kipu konnte nur von einem Schriftgelehrten, welcher Camayo genannt wurde, geknüpft oder gelesen werden. Es wurden nur die zuverlässigsten Leute zu Kipu-Camayos gewählt, und in jedem Dorf fanden sich Kipu-Verwalter, welche ihre Kunst nur auf ihre Nachkommen vererbten. Mein alter Anciano stammt aus einer solchen Familie und würde heut noch jeden Kipu, den er fände, lesen und entziffern können.“
    „Kannst du das auch?“
    „Ja, denn ich bin der Nachkomme der Herrscher, welche vor allen Dingen diese Kunst verstehen mußten. Bring mir ein Schnurbündel, und ich lese es dir so vor, wie du die Worte eines Briefes vom Papier liest. Mein Vater hat mich in allem unterrichtet, was ein Inka wissen muß, denn er glaubte, unser Reich könne wieder erstehen und ich würde –“
    Er hielt inne und blickte still vor sich nieder. Seine sonst so ernsten Züge nahmen jetzt den Ausdruck tiefer Trauer an. Dann holte er tief Atem und fuhr fort: „Er glaubte es vordem, später aber nicht mehr, wie mir Anciano jetzt erst mitgeteilt hat. Auch ich habe stets die Hoffnung gehegt, daß das Tote wieder lebendig werden könne, nun aber, seit ich dich kenne, habe ich diese Hoffnung aufgegeben.“
    „Seit du mich kennst?“ fragte Anton betroffen. „So meinst du, ich sei schuld daran?“
    „Ja, doch ohne daß du es beabsichtigt hast. Ich kannte nur meine Berge und die Wildnis der Wälder; ich hatte immer nur von meinem Volk, nicht aber von anderen Völkern gehört. Da lernte ich dich kennen, und du erzähltest mir von vielen Nationen und Reichen; ich weiß erst jetzt, wie groß die Erde ist und wie klein dagegen ein Mensch, ein einsamer Knabe, obgleich seine Ahnen einst mächtige Sonnensöhne waren. Ich habe geträumt und bin erwacht und würde, selbst wenn ich heute alle Reichtümer der Erde da unten in der Schlucht vorfände, nie wieder in den trügerischen Traum zurückverfallen. Die Geschichte meines Volkes ist zu Ende; die Vergangenheit geht mich nichts mehr an, und ich will nun nur noch vorwärts blicken. Ich möchte lernen, was du gelernt hast; ich möchte ein Mann werden wie diejenigen waren oder sind, von denen du mir erzähltest. Darum werde ich meine Berge verlassen und dahin gehen, wo dieser Wunsch Erfüllung findet. Der Vater Jaguar soll mir raten, und was er sagt, das werde ich tun. Das könnte ich nicht, wenn ich arm wäre; darum freut es mich, jetzt das Vermögen und das Vermächtnis meines Vaters vor mir zu haben. Hätte es nicht diesen Zweck, so würde ich alles Gold und Silber, welches meiner wartet, verachten, denn es wäre leicht möglich, daß es auch mir das brächte, was es meinen Ahnen gebracht hat, das Verderben, den Tod, den Untergang.“
    Er hatte sehr langsam und in verschiedenen Absätzen gesprochen. Jetzt stand er auf und entfernte sich, als ob er in der Einsamkeit über das Gesagte weiter nachdenken wolle. Anton folgte ihm nicht; er fühlte trotz seiner Jugend, daß der Freund an einem bedeutsamen Wendepunkt stehe und seine Entschlüsse aus seinem eigenen Innern schöpfen müsse. Darum blieb er sitzen und wartete ruhig, bis er wiederkommen würde.
    Als dies nach einiger Zeit geschah, hatte das Gesicht des Inkas einen beinahe heiteren Ausdruck angenommen. Er reichte dem jungen, weißen Freund die Hand und sagte: „Du willst jetzt nach Lima und dann in das Land deiner Väter nach Deutschland hinüber, um noch mehr zu lernen. Ich weiß von dir, welch ein Land dies ist und welch ein Volk da wohnt. Würdest du mich mit hinübernehmen?“
    „Gern, gar zu gern!“ antwortete Anton, indem er überrascht aufsprang. „Hast du diese Worte im Ernst gesprochen?“
    „Ja; aber ich will vorher mit dem Vater Jaguar und mit Anciano reden. Ohne den treuen Alten ginge ich nicht

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