Der Kelch von Anavrin: Das magische Siegel (German Edition)
1
Cornwall, England. Mai 1275
Langsam und mit zögernden Schritten trat er über die Schwelle. Er war so lange nicht im Hause des Herrn gewesen, dass er unsicher war, ob er dort überhaupt willkommen sein mochte. Er rechnete kaum damit, dass Gott ihm noch Gehör schenkte. Aber mochte Er ihn nun aufnehmen oder nicht, ihm war das Herz schwer, und er wusste nicht, wo er sich von seinen drückenden Sorgen befreien sollte. Diese Schande hier hatte jedoch er allein zu verantworten; das Geschehen, so glaubte er, werde ihn für den Rest seines Lebens verfolgen.
Edle Sporen aus Silber zierten seine Stiefelabsätze und erzeugten ein leises metallisches Klicken auf dem glatten Steinfußboden, als er den leeren gewölbten Raum durchschritt. Da kein wärmendes Feuer brannte und nicht einmal eine Fackel Licht spendete, herrschte in dem Raum die kühle Stille einer düsteren Gruft. Allein durch das hohe gebogene Fenster fiel trübes Tageslicht. Eine Grabesstille, dachte er voller Grimm, und seine Augen brannten noch von dem Anblick der Verwüstung, der sich ihm bei seiner Ankunft geboten hatte.
Als der Ritter die ganze Länge des Raums durchschritten hatte, verharrte er, die Glieder schwer von den vielen Tagen im Sattel. Seine Kehle war wie ausgetrocknet, sein Gaumen brannte.
Das Haupt mit den blonden Locken in stiller Andacht gesenkt, schloss er die Augen und sank auf die Knie.
»Pater noster, qui es in caelis … «
Das Gebet kam ihm wie selbstverständlich über die Lippen, waren ihm die Zeilen doch so vertraut wie sein eigener Name. Kenrick of Clairmont hatte das Vaterunser unendlich oft wiederholt – wohl hundertmal am Tag, und das eine ganze Woche lang. Denn so gab es die Ordensregel vor, wenn einer der Templer den Tod gefunden hatte. Obwohl er dem Orden nicht mehr angehörte und das Gelübde gebrochen hatte, hoffte er doch, der Glaube möge ihm nicht ganz abhandengekommen sein. Das Vaterunser, das er nun betete, war einem Freund und dessen Familie zugedacht, denn früher einmal hatte Randwulf of Greycliff zusammen mit seiner Gemahlin und seinem Sohn an diesem Ort gelebt.
Bei jedem Atemzug erschwerte ihm der Geruch von verbranntem Gebälk und kaltem Rauch das Sprechen. Ruß bedeckte den Boden der Kapelle, in der er kniete. Ebenso rußgeschwärzt waren auch die Mauern des kleinen Wohnturms dahinter. Der Ort war verfallen, kalt und leblos, und das schon seit einigen Wochen.
Rand und dessen geliebte Familie … es gab sie nicht mehr.
Kenrick brauchte nicht erst nach dem Warum zu fragen, wusste er doch genau, wer hinter den Untaten steckte. Das ganze Ausmaß der Zerstörung trug die Handschrift von Silas de Mortaine, dem Mann, der ihn fast ein halbes Jahr in einem Verlies in Rouen gefangen gehalten hatte. Der Schurke hätte ihn gewiss getötet, wäre Kenrick nicht vor einigen Monaten auf kühne Weise aus der Haft befreit worden. Doch der Gedanke, davongekommen zu sein, bot ihm nun keine Erleichterung mehr. Während er sich von den Folgen der Folter hatte erholen können, waren Rand und dessen Familie einem fürchterlichen Schicksal ausgeliefert gewesen.
Und dies alles seinetwegen.
Alles nur wegen eines geheimen Schwurs, der ihn mit seinem Freund und Waffengefährten verband. Vor über einem Jahr hatten sie in diesem bescheidenen, befestigten Herrenhaus in Cornwall nicht weit von Land’s End das Gelübde gesprochen.
Bei Gott!
Hätte er geahnt, was Rand dadurch auf sich lud, er hätte den alten Freund niemals um seine Hilfe gebeten.
»… sed libera nos a malo … «
Zu spät, dachte er, verbittert von Kummer und Reue. Vor den bösen Machenschaften de Mortaines war niemand sicher. Der Einfluss dieses Mannes war nicht auf die Grenzen eines Landes beschränkt. Er stellte eine fürchterliche Bedrohung dar, denn er war ein wohlhabender Adliger, der sich der schwarzen Kunst bediente und einen kleinen Trupp gedungener Schergen befehligte, die ihm halfen, seine bösen Ziele zu erreichen. De Mortaine begehrte den Drachenkelch, einen legendären Schatz, dessen Ursprung in mystischer Vorzeit lag. Noch während seiner Ordenszeit war Kenrick auf die Geschichten gestoßen, die sich um den sagenhaften Kelch rankten. Tatsächlich hatte er all diese Erzählungen zunächst als bloße Legenden abgetan, bis er schließlich selbst einen Teil dieses sagenumwobenen Horts in Händen gehalten hatte und Zeuge seiner unermesslichen Macht geworden war.
Es gab den Drachenkelch also wirklich, und das Blutbad, das hier angerichtet worden war,
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