40 Stunden
Elektroden, mit denen seine Herzfunktionen aufgezeichnet werden.
Er legt den Kopf zurück an das Holz.
Und endlich bahnt sich die alles entscheidende Erkenntnis ihren Weg durch die Nebel seines Verstandes. Die eisengrauen Dinger: Es sind Nägel.
Er öffnet den Mund.
Und lacht.
1. Teil – Stunde 1 bis Stunde 14
Vater, vergib ihnen,
denn sie wissen nicht, was sie tun.
(Lukas 23,34)
Kapitel 1
Faris Iskanders Augen brannten. Bleierne Müdigkeit hielt ihn in ihrem Griff, seit Monaten schon. Monate, in denen er nur noch stundenweise geschlafen hatte. Monate, in denen er jedes Mal, wenn er endlich zur Ruhe gefunden hatte, mit einem panischen Schrei aus dem immer gleichen Albtraum aufschreckte.
Das verzweifelte Weinen eines Kindes. Feuer, das ihn einhüllt …
Mit Daumen und Zeigefinger rieb er sich die Nasenwurzel. Seit Stunden schon stand er mit einem Porzellanbecher in der Hand am Schlafzimmerfenster und starrte in die düstere Nacht hinaus, die langsam einem ebenso finsteren Morgen wich. Im Hintergrund lief eine alte CD von Metallica. Aus Rücksicht auf die anderen Mieter des Hauses hatte er sie leise gedreht, trotzdem konnte Faris James Hetfield Ride the lightning singen hören. Er hatte den Titel auf Dauerschleife gestellt. Er schloss die Augen, riss sie aber sofort wieder auf, weil es sich anfühlte, als seien seine Lider aus Sandpapier. Die Sonne würde erst in knapp einer Stunde aufgehen. Außer Unterhose und T-Shirt trug er nichts weiter als das Lederarmband, das ihm Laura in einem gemeinsamen Urlaub in Ägypten geschenkt hatte und das er niemals ablegte. Die darin eingebrannten arabischen Schriftzeichen– Laura und Faris – waren kaum noch zu lesen, und das schien ihm ein passendes Bild für ihre Beziehung zu sein. Laura hatte ihn verlassen, gut zwei Jahre war das nun her. Selbst die Explosion, die Faris beinahe in Stücke gerissen hätte, hatte sie nicht zur Rückkehr bewegen können.
Flash before my eyes, sang Hetfield. Now it’s time to die.
In den vergangenen Tagen war es brütend heiß gewesen in der Stadt, fast wie im Hochsommer, aber am Abend zuvor war ein Gewitter über Berlin niedergegangen, und es hatte sich merklich abgekühlt. So sehr, dass Faris in der Nacht das Fenster geschlossen hatte, weil er fror. Jetzt spiegelte sich seine Gestalt in der Scheibe. Sein Gesicht war ein bleiches Oval, das geisterhaft in der Dunkelheit schwebte, umgeben von etwas zu langen schwarzen Haaren. Der V-Ausschnitt des T-Shirts enthüllte einen Teil der dunkelroten Brandnarbe, die seinen Brustkorb und den rechten Bizeps überzog. Er konnte den Blick nicht davon abwenden. Als es draußen zu dämmern begann, verblasste sein Umriss zunehmend. Er seufzte und wurde sich wieder des Bechers in seinen Händen bewusst. Mit einem müden Grinsen prostete er sich selbst zu, setzte das Gefäß an die Lippen und trank es bis zur Neige aus.
Bitter rann ihm die Flüssigkeit die Kehle hinunter, und er zog eine Grimasse.
In dem Metallica-Song erwachte der Protagonist aus seinem Albtraum, und Faris beneidete ihn dafür. Der Karton fiel ihm ein, der auf dem oberen Regalbrett seines Schrankes stand und der gewöhnlich seine Waffe enthielt. Er stieß Luft durch die Nase. Im Moment war dieser Karton leer, da man Faris kürzlich von seinem Dienst als Beamter des Landeskriminalamts suspendiert hatte.
Reiß dich zusammen!, mahnte er sich. Nichts war schlimmer als Menschen, die in Selbstmitleid versanken. Doch in diesen Stunden kurz vor Tagesanbruch war auch er nicht davor gefeit. Dann schlichen sich die Erinnerungen an ihn heran, um ihn zu quälen, und die Bilder und Geräusche, die er seit zehn Monaten in sich trug, ließen ihn nicht mehr zur Ruhe kommen. Das Weinen des Kindes. Eine Feuerwalze, die auf ihn zurollte. Dann Blut und Leichen. Leises Stöhnen. Verzweifelte Schreie …
Faris kniff die Augen zu und rieb sich die Stirn. Wieder einmal hatte er sich in seinen Grübeleien verloren. Draußen war es inzwischen vollständig hell geworden. Im Hintergrund lief immer noch Metallica. Drei Etagen unter ihm hatten die Berliner längst ihr Tagwerk begonnen, und wie gern hätte er es ihnen gleichgetan.
Er schaute in den leeren Becher und seufzte, dann wandte er sich vom Fenster ab, verließ das Schlafzimmer. Er durchquerte den winzigen Flur, ohne einen Blick in den Spiegel an der Garderobe zu werfen. Er wusste auch so, dass seine Augen den brennenden Ausdruck von einem Junkie auf Entzug hatten. Schlafmangel war auf Dauer schlimmer
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