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40 Stunden

40 Stunden

Titel: 40 Stunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Lange
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die Senkrechte erreicht hatte und die Schwerkraft begann, an dem Körper des Mannes zu ziehen, warf er den Kopf zurück und stieß einen Schrei aus. Das Piepsen des Herzmonitors beschleunigte sich. Faris’ Magen drehte sich um.
    Einen Moment lang zeichnete die Kamera noch das Bild des Gekreuzigten auf, dann wurde das Fenster schwarz. Der Film war zu Ende.
    Faris starrte auf den kleinen Bildschirm. Mit der freien Hand strich er sich die Haare aus der verschwitzten Stirn.
    Langsam hob er das Smartphone wieder ans Ohr.
    » Hast du dir das Video angesehen?«, erklang die Stimme des Anrufers.
    Faris bejahte.
    » Gut«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung. » Du kannst dir sicher denken, dass es echt ist.«
    Darauf antwortete Faris nicht.
    Der Anrufer stieß ein spöttisches Schnauben aus. » Dieser Mann am Kreuz befindet sich in meiner Gewalt. Und ich will jetzt, dass du Folgendes tust: Gehe zur U-Bahn-Station in der Bismarckstraße. Und zwar sofort!«
    Faris krampfte die Finger um das Mobiltelefon. » Und dann?«
    » Alles Weitere sage ich dir, wenn du da bist. Ach, und Faris: Solltest du deine Kollegen oder irgendwen sonst informieren, werde ich das erfahren!«
    Faris schwieg. Einen Augenblick lang war es sehr still in der Leitung. Dann lachte der Anrufer erneut. » Widerspenstig, Faris? Denk an die Explosion im Museum!«
    Die Haut in Faris’ Genick begann zu kribbeln.
    » Keine Kollegen zunächst«, wiederholte der Unbekannte.
    Zunächst?
    Faris’ Verstand stolperte über das Wort, er hatte aber keine Gelegenheit, sich Gedanken darüber zu machen, denn nun zischte der Anrufer: » U-Bahn-Station Bismarckstraße. Du hast fünf Minuten!« Ohne ein weiteres Wort legte er auf.
    Alexander
    DAS BÖSE IST DER PREIS DER FREIHEIT , sagte die Stimme aus dem Licht.
    Alexander ließ den Hammer sinken und blinzelte. Er wollte einen Schritt vorwärts machen, wollte sehen, wie die Gestalt aussah, die sich hinter der grellen Aureole vor ihm verbarg. Aber die Stimme hatte es ihm verboten. SCHAU MICH NICHT AN !, hatte sie gesagt.
    Und Alexander gehorchte.
    Statt in das Licht schaute er nun zu dem Gekreuzigten auf. Etwas Warmes kribbelte auf seinem Gesicht, und er wischte sich über die Stirn.
    JA , sagte die Stimme. ES IST VOLLBRACHT .
    Zitternd holte Alexander Luft. Sein Blick ruhte auf dem Mann am Kreuz. » Es ist nicht richtig«, murmelte er. Sein steinernes Herz hämmerte so heftig, dass ihm schlecht davon wurde.
    ES IST ALLES , WIE ES SEIN MUSS , entgegnete die Stimme. VERTRAU MIR !
    Alexander würgte, doch dann nickte er. Tränen machten ihn blind, und er spürte, wie sie ihm die Wangen hinunterrannen. Sie fühlten sich kalt an. Kalt wie der Stein in seiner Brust.
    Der Gekreuzigte blickte ihn an. Alexander konnte die Schmerzen in den vertrauten Augen sehen.
    ER WIRD NICHT LEIDEN , hatte die Stimme aus dem Licht ihm versichert. DAFÜR SORGE ICH .
    Aber war das richtig? Alexander stöhnte unter dem Anfall von Übelkeit, der ihn packte. Ein feines Geräusch hallte in seinem Kopf wider. Ein rhythmisches, durchdringendes Piepsen. Er krümmte sich.
    DU MUSST STARK SEIN !, befahl die Stimme.
    Er richtete sich auf. » Ja«, flüsterte er. » Das will ich!«
    DANN GEH JETZT . REINIGE DICH ! DU BIST GANZ SCHMUTZIG !
    Er gehorchte. Er verließ den niedrigen gekachelten Raum, in dem sich nichts befand außer dem Kreuz, dem Mann daran, dem grellen Licht. Und seinem eigenen Entsetzen. Er stellte sich vor eines der Waschbecken, die in einer Reihe vor halb erblindeten Spiegeln an der Wand aufgehängt waren. Das Licht fiel von hinten auf ihn, er konnte undeutlich sehen, dass die Stimme recht hatte. Blut war quer über sein Gesicht gespritzt, sprenkelte die blasse Haut, als hätte ein Maler mit einem Pinselquast voller Farbe nach ihm geschlagen.
    Das Rot schrie seine Schuld zum Himmel.
    Alexander öffnete mit zitternder Hand den Wasserhahn und reinigte sich gründlich, wie die Stimme im Licht es befohlen hatte. Als er anschließend wieder aufblickte, da wusste er endlich, dass alles gut war.
    Einen Augenblick lang sah er sich selbst in die Augen.
    » Ich habe meinen Vater gekreuzigt«, flüsterte er.
    Und übergab sich in das Waschbecken.

3. Kapitel
    Herr im Himmel! Ich bin wirklich zu alt für so was!
    Schwester Xaveria vom Orden der Barmherzigen Schwestern vom heiligen Karl Borromäus war übel. Selbst schuld!, schalt sie sich. Warum hatte sie sich mit ihren fast achtzig Jahren auch auf diese Berlinreise eingelassen? Warum hockte sie

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