5. Die Rinucci Brüder: In Neapel verlor ich mein Herz
entscheiden.“ „Demnach kennen Sie sie.“
„Ja, wir sind Freundinnen. Ich bin Kyra Davis.“
„Hat sie auf dieser Station gearbeitet?“
„Ja. Ihre Cousine hat hier gelegen und ist hier gestorben. Vielleicht dürfte ich Ihnen das gar nicht erzählen. Wer sind Sie eigentlich?“
„Der Vater des Kindes ihrer Cousine.“
„Matthews Vater? Sie hat den Kleinen immer mitgebracht, wenn sie ihre Verwandte besucht hat. Zuletzt hatte diese einen kleinen Raum für sich, sodass die drei in Ruhe voneinander Abschied nehmen konnten.“
„Darf ich den Raum sehen?“
„Ja. Er steht jetzt leer.“ Als Kyra wenig später die Tür zu dem Zimmer öffnete, wurde sie zu einem Patienten gerufen und ließ Ruggiero allein.
Benommen betrachtete er das leere Bett, auf das jetzt die Sonnenstrahlen fielen und in dem Sapphire gestorben war. Und dann versuchte er, sich ihr Bild in Erinnerung zu rufen. Doch es gelang ihm nicht.
Stattdessen meinte er plötzlich Polly zu sehen, wie sie neben dem Bett gesessen und Matti in die Arme seiner Mutter gelegt hatte. Wahrscheinlich hatte sie hier schweren Herzens und bis zur völligen Erschöpfung Stunden verbracht, um Mutter und Kind die letzten gemeinsamen Augenblicke zu ermöglichen.
Woher weiß ich das?, fragte er sich plötzlich. Polly hatte es ihm nicht erzählt. Dennoch musste es so gewesen sein. In den letzten Stunden und Minuten war es ihre einzige Sorge gewesen, den ihr anvertrauten Menschen zu helfen. An sich selbst hatte sie dabei nie gedacht.
Und dann glaubte er sogar, die Stimmen der beiden während ihres letzten Gesprächs zu hören. Polly musste ihrer Cousine versprechen, ihn zu suchen und ihm zu sagen, dass er einen Sohn habe. Verblüfft blickte er sich um. Wieso konnte er ihre Stimmen hören, wenn niemand hier war? Natürlich, Sapphire hatte es nie gegeben, umso präsenter schien Polly zu sein. Mit ihr fühlte er sich verbunden. Mit ihrer Wärme, Herzlichkeit, mit ihrem Verständnis für menschliche Schwächen und ihrer Geradlinigkeit hatte sie sein Herz erobert. Er war am Ziel einer langen Reise. In diesem kleinen Raum begann seine Zukunft.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte in diesem Moment Kyra von der Tür aus und riss ihn aus seinen Gedanken.
„Ja, ja“, antwortete er, und in seiner Stimme schwang Freude mit. „Es geht mir so gut wie schon lange nicht mehr. Aber ich muss unbedingt mit Polly reden.“
„Sie wollte für einige Tage wegfahren.“
„Mit ihrem Verlobten?“
„Polly ist nicht verlobt. Sie liebt einen Mann, der ihre Gefühle nicht erwidert. Mehr hat sie mir nich t verraten.“ Die Schwester sah Ruggiero neugierig an, war jedoch zu taktvoll, um Fragen zu stellen. „Ich glaube, sie wollte nach Yorkshire fahren, in das Dorf, in dem sie als Kind gelebt hat.“
„Vielen Dank. Jetzt weiß ich, wo ich sie finden kann.“
Stunden später saß Ruggiero im Zug nach Yorkshire und fuhr von dort weiter mit dem Bus. Dass dieser genau vor der Dorfkirche hielt, war ein glücklicher Zufall.
Anhand des Fotos, das Polly ihm geschickt hatte, fand er das Grab auf dem kleinen Friedhof auf Anhieb, obwohl es schon dunkel wurde. Auf der Marmorplatte standen Fredas Name, ihr Geburts- und ihr Sterbedatum. Er warf einen flüchtigen Blick darauf und sah sich dann suchend um. Polly war weit und breit nicht zu entdecken. Nur die frischen Blumen auf dem Grab deuteten darauf hin, dass sie hier gewesen war.
„Ich werde sie finden“, flüsterte er, während er den Friedhof verließ und nach einem Blumengeschäft Ausschau hielt.
Zwei Tage hatte Polly damit verbracht, die Orte ihrer Kindheit aufzusuchen: das Haus ihrer Eltern, das ihrer Tante und ihres Onkels, die Schule und auch Ranley Manor, obwohl sie an dem Herrenhaus lieber vorbeigefahren wäre, ohne einen Blick darauf zu werfen.
Zweimal hatte sie das Grab ihrer Cousine besucht und Blumen mitgebracht. Als sie vor ihrer Rückreise noch ein letztes Mal hinging, glaubte sie zu träumen: Das Grab war über und über mit goldgelben Butterblumen bedeckt.
Sie sah sich um. Auf der Wiese stand keine einzige Blüte mehr. Jemand hatte alle gepflückt und wie eine stumme Botschaft auf das Grab gelegt. Dann entdeckte sie die Teerosen.
Plötzlich erinnerte sich Polly an das Gespräch mit Ruggiero über Blumen, das sie in dem kleinen Restaurant in Neapel geführt hatten. Wenn man Teerosen verschenkte, war das mit dem
Versprechen verbunden, dass man einen Menschen nie vergessen und in bester Erinnerung behalten wollte.
Die
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