52 Verfuehrungen - Ein Paar Holt Sich Die Lust Zurueck -
Tasse Tee an und fragt mich, ob ich das Plakat, das er gerade macht, gegenlese. Darauf reagiere ich wütend, weil er so tut, als wäre nichts geschehen. Ich gehe und schmolle in meinem Büro. Etwas später stürme ich heraus, um ihn dafür anzuschreien. Wir streiten darüber, wer sich entschuldigen sollte. Ich befinde mich in der unglücklichen Lage, gerade mitten in der Zubereitung eines Lamm Biryani zu sein – Herberts Lieblingsessen –, das ich schon am Vortag mariniert habe. Ich kann es nicht verkommen lassen, aber es ist ein echter Liebesdienst, das verdammte Gericht zu kochen. Ich setze darauf, dass sich der Sturm gelegt haben wird, bis es fertig ist.
Doch das passiert nicht. Es ist 21 Uhr, und ich bin am Verhungern, aber ich will verdammt sein, wenn ich ihm jetzt auch noch sein Leibgericht serviere. Also nehme ich mir einen Teller voll für mich und rufe ins Wohnzimmer, dass es etwas zu essen gibt, wenn er will. Er kommt nicht, um sich etwas davon zu holen. Ich schaufele mir ein paar Gabeln voll in den Mund, aber es bleibt mir im Halse stecken. »Dann willst du also nicht einmal mein Essen?«, frage ich.
»Nein.«
Das Geschrei geht von vorn los. Ich kann mich nicht einmal mehr daran erinnern, was ich gesagt habe, aber am Schluss mache ich etwas, das ich noch nie getan habe: Ich gehe. Ich schnappe mir meine Handtasche, achte darauf, die Tür leise zu schließen, damit die Nachbarn es nicht hören, und trete in die Dunkelheit. Ich mache ein paar zögernde Schritte auf unser Gartentor zu und bin mir nicht sicher, welche Richtung ich einschlagen soll. Schließlich marschiere ich aufs Meer zu. Ich weiß nicht, ob er mir folgen wird. Kater Bob trottet mir eine Weile auf der Straße hinterher, aber ich tue so, als würde ich ihn nicht sehen.
Ich fühle mich, als sei ich aus Suppe gemacht; meine Haut kann meinem inneren Brodeln kaum standhalten. Als ich an einer Strandbar vorbeikomme, hole ich mir dort einen Plastikbecher mit starkem Apfelwein. Dann klettere ich den Strand hinauf. Wegen der Ebbe hat sich das Wasser weit zurückgezogen, die Luft ist weich und feucht. Abends werfen die hölzernen Wellenbrecher scharfe Schatten auf den Strand nahe der Wasserlinie. Ich hocke mich vor so eine feuchte Wand, werde dadurch praktisch unsichtbar und trinke meinen Cider. Dabei fühle ich mich so ruhig wie schon lange nicht mehr.
Ich will nicht nach Hause. Die Sterne leuchten milchig vom Himmel. Ein Fuchs jagt ganz in der Nähe über den Kies. Ich sehe nach, ob ich den letzten Zug nach London schon verpasst habe. Und ich frage mich, ob es heutzutage überhaupt noch möglich ist, spurlos zu verschwinden, sein iPhone ins Meer zu werfen und abzuhauen. Da merke ich, dass ich bei jeder Windböe, die mich erreicht, lache. Ich reiße den Mund
auf, damit die Windstöße hineinfahren. Ob ich am Strand schlafen könnte, als Karikatur einer Obdachlosen mit einer Handtasche von Prada?
Nach einer Stunde schickt Herbert eine SMS. Kannst du mich bitte wissen lassen, wo du steckst? Ich kümmere mich nicht darum. Bis Mitternacht bleibe ich am Strand. In allen Häusern und Lokalen sind die Lichter erloschen, und sogar der Fuchs ist verschwunden.
Irgendwann wird mir klar, dass wir auf absolut sicherem Terrain streiten. Als wir erst frisch zusammen waren, barg jede Auseinandersetzung das Risiko einer Trennung, und daher hatte ich dabei immer das Gefühl, gleichzeitig auf zwei Seiten zu kämpfen: um meine eigenen Interessen zu vertreten und um unsere Zweisamkeit zu retten. Jetzt ist diese Gefahr gebannt. Wir werden uns nicht trennen, nicht wegen so was, wegen gar nichts. Und das lässt uns in einer schrecklichen Bindung dastehen. Jeder von uns kämpft um seine Eigenständigkeit, doch wir sind beide nicht in der Position, irgendwelche Drohungen aussprechen zu können. Selbst wenn wir uns weigern, uns zu ändern, wird keiner von uns gehen.
Als ich nach Hause komme, ist Herbert nicht da, sondern scheint mich suchen gegangen zu sein. Ich schicke ihm eine SMS, und er kommt zurückgestürmt. Dann drückt er mich so fest, als sei ich das Kostbarste auf der Welt. Die halbe Nacht lang bleiben wir auf und reden, aber wir verstehen einander immer noch nicht vollständig, nicht einmal nach fünfzehn Jahren beständiger Artikulation. Aber schließlich sind Lieben und Verstehen auch zwei völlig unterschiedliche Sachen.
Verführung Nr. 36
GANZ ENTSPANNT
N ach dem schlimmen Streit tut Herbert etwas, das ich für eine seiner nettesten Gesten überhaupt
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