62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
den Vater nicht zu wecken. Er kam zur Schwester heran, küßte sie auf das weiche, lockige Haar und sagte im Flüsterton:
„Hier, liebe Hilde, hast du zu essen für dich und den Vater!“
Dabei legte er ihr ein Paket hin.
„Aber du?“ fragte sie.
„Oh, ich bin satt!“ antwortete er leuchtenden Auges. Es lag ein solcher Ausdruck des Glücks auf seinen intelligenten Zügen, wie sie es seit langem nicht bemerkt hatte.
„Und hier“, fuhr er fort, „ist auch der gestrige Zins.“
Dabei legte er einige Gulden aus dem Portemonnaie hin.
„Soviel auf einmal?“ fragte sie erfreut.
„Ja. Ich habe heute bei einem Geheimrat zum Piano zu geigen. Es ist eine Verlobung, und man hat mich gleich vorher bezahlt. Gott wird helfen, daß wir in acht Tagen so viel zusammenbringen, wie der Bruder braucht.“
Sie senkte den Kopf und seufzte verstohlen. Dann aber hob sie ihn rasch empor und fragte:
„Lieber Max, du bist heute so froh. Ist's wegen diesem Geld?“
„Nicht allein. Ich habe heute nach langer Zeit einen lieben, lieben Freund wiedergesehen, den ich im ganzen Leben nicht mehr zu erblicken glaubte.“
Er sagte ‚Freund‘, und doch war Ellen Starton, die Tänzerin, gemeint.
„Kenne ich ihn auch?“ fragte Hilda.
„Nein. Ich lernte ihn während meiner Konzertfahrten kennen.“
„Bringst du ihn vielleicht einmal her?“
Sein Gesicht wurde um einen Schatten düsterer, als er zögernd antwortete:
„Wohl nicht. Sein Lebensweg ist ein anderer, als der meinige. Nun muß ich aber wieder fort. Ich will sehen, ob ich so glücklich bin, auch etwas für das Blatt zu erbeuten.“
Er gab ihr die Hand, nickte der Nachbarin freundlich zu, trat zum Vater, um auf dessen ruhige Atemzüge zu lauschen und ging dann leise fort.
„Der Gute!“ flüsterte die Frau.
„Gott wird helfen, hat er gesagt!“ bemerkte Hild gedankenvoll vor sich hin.
Sie legte den Kopf in die Hände und verharrte eine Weile in dieser Stellung. Dann, als sie das Gesicht wieder erhob, lag es wie ein fester Entschluß auf demselben. Die Alte bemerkte es und fragte:
„Sie denken an etwas Wichtiges, liebes Kind?“
„Ja.“
„Was ist es?“
„Der Bruder sorgt und plagt sich ab. In acht Tagen müssen wir fünfzehn Gulden nach dem Gymnasium schicken. Ich darf und kann ihm von dem Wechsel nichts sagen.“
„Aber er muß es ja doch erfahren!“
„Nein. Er hat gesagt, Gott werde helfen. Ja, Gott hilft, aber nur durch uns selbst. Ich kenne einen Weg, aus dieser Sorge zu kommen.“
„Das sollte mich freuen. Darf ich es erfahren?“
„Später werde ich es Ihnen sagen.“
Sie hatte einen schweren, schweren Entschluß gefaßt. Sie war gewillt, ihn auszuführen; aber sie befürchtete, durch die Nachbarin wankend gemacht zu werden; darum verschwieg sie es ihr lieber.
Sie nähte noch ein halbes Stündchen fleißig fort, dann war sie fertig. Sie legte das, was Max mitgebracht hatte, für den Vater bereit und fragte dann:
„Liebe Frau Nachbarin, ich will die Näharbeit abliefern, können Sie beim Vater bleiben, bis ich wiederkomme?“
„Ja, gern.“
„Auch wenn ich ein wenig länger bleibe als gewöhnlich?“
„Auch das. Es bleibt sich ja gleich, ob ich hier sitze oder drüben in meinem Stübchen.“
„Ich danke Ihnen! Geben Sie dem Vater zu essen, wenn er erwacht.“
Sie kleidete sich etwas sorgsamer an, als es sonst zu geschehen pflegte, und packte die Arbeit ein.
„Für wen ist es?“ fragte die Nachbarin.
„Für die Frau Ballettmeister.“
Zunächst ging sie zum Wirt, um die rückständige Miete zu entrichten, und dann wanderte sie, allerdings in gedrückter Stimmung, der Wohnung des ‚Herrn Ballettmeisters und Kunstmalers‘ zu.
Die Frau desselben empfing sie in freundlicher Weise, lobte die Arbeit und bezahlte diese. Dann aber fragte sie: „Haben Sie vielleicht wieder einmal an das Anerbieten meines Mannes gedacht, Fräulein Holm?“
Sie erglühte im ganzen Gesicht; doch hatte sie einmal den Entschluß gefaßt und wollte ihn nun auch ausführen. Der unglückselige Wechsel mußte eingelöst werden, ohne das Max etwas davon zu erfahren brauchte.
„Sagen Sie einmal, Frau Ballettmeister, ist es sehr schwer?“ fragte sie ängstlich.
„Wo denken Sie hin! Gar nicht.“
„Und doch stelle ich es mir so ungeheuer schwer vor.“
„Es ist im Gegenteil sehr leicht. Wenn Sie einmal krank werden, dürfen Sie sich vor den Blicken des Arztes auch nicht fürchten. Mein Mann ist kein junger Bursche, sondern er ist alt und ein
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