62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
Er galt für einen Virtuosen. Dann kam das doppelte Unglück.“
„Ihr armen Leute! Wie kam denn das alles?“
„Nun, Mutter wurde krank und starb; dann wurde der Vater vom Schlag gelähmt. Wir schrieben an Max; aber da sah es fast ebenso schlimm aus. Er hatte seine Ersparnisse in einer Bank angelegt; sie machte bankrott und er verlor alles. Er wollte von neuem beginnen, da aber kam die Verwundung, und nun war alles aus.“
„Wie ist er denn zu dieser Hand gekommen?“
„Sie ist zerschossen worden.“
„Doch nicht im Krieg?“
„Nein.“
„Ist er angefallen worden?“
„Auch nicht. Er hat – ein Duell gehabt.“
Das sagte sie so leise, daß es kaum zu hören war.
„Herrgott! Ein Duell! Warum denn?“
„Das sollen wir eigentlich gar nicht wissen.“
„Aber Sie wissen es doch?“
„Ja.“
„Wer hat es Ihnen denn verraten?“
„Er hat da drüben in Amerika ein Tagebuch geführt, in welchem alles steht. Er läßt es uns nicht lesen; aber einmal hat er vergessen, es einzuschließen, und da habe ich es verstohlen geöffnet.“
„Und gelesen?“
„Ja.“
„Was stand denn drin?“
Die Alte rückte vor Erwartung auf ihrem Stuhl hin und her. Das war ja so das richtige Thema. Ein Geheimnis, ein Duell – vielleicht gar noch mehr!
„Ja, davon soll man eigentlich gar nicht sprechen“, antwortete das Mädchen.
„Nun ja, ganz recht! Aber mir können Sie es ja mitteilen. Nicht wahr?“
„Vielleicht ist's Unrecht; aber Sie sind so gut gegen uns, fast wie eine Mutter. Sie nehmen sich des Vaters an, damit ich mehr arbeiten und verdienen kann, und da wäre es wohl undankbar, wenn ich kein Vertrauen hätte.“
„Ganz richtig, meine liebe Hilda! Sie können volles Vertrauen zu mir haben. Ich werde Sie nicht enttäuschen. Und Ihnen wird ja auch das Herz leicht, wenn Sie einen Teil der Last auf mich übertragen.“
„Ach ja, Sie haben recht. Es ist so bös, jung sein und schon solche Sorgen haben!“
„Also das Duell, das Duell!“
„Nun, liebe Frau Nachbarin, es war so eine – eine – Liebe dabei.“
„Eine Liebe? Oh, wie interessant! Unser Herr Max ist verliebt gewesen?“
„Ja.“
„Hat er davon gesprochen?“
„Kein Wort. Aber im Tagebuch steht es, ach, so herzbrechend. Ich habe geweint, als ich es las.“
„Wer war sie denn? Eine Amerikanerin?“
„Ja.“
„Und was war sie denn? Doch braver Leute Kind?“
„Sie war eine – eine – Tänzerin.“
„Herr, mein Heiland! Kind, sind Sie klug? Eine Tänzerin? Also vom Ballett?“
„Ja.“
„Und die hat er lieb gehabt? Er, der sonst so ernst und vorsichtig ist?“
„Oh, sie ist brav gewesen, sehr brav!“
„Gehen Sie! Eine Tänzerin ist niemals brav!“
„Diese aber doch. Sie hat nämlich nicht um Geld getanzt, sondern im Drang ihres Talents.“
„Nun höre einer! Das Talent soll zum Tanz drängen! Schiller und Goethe, Mozart und Beethoven, das waren auch Talente; das waren sogar Genies; aber haben sie sich von ihrem Genie zum Tanz verleiten lassen?“
„Das ist etwas anderes!“
„Nein. Mein seliger Mann war auch ein bedeutendes Talent. Er war Obermeister der Tischlerinnung, Feldwebel bei der Scheibenschützengesellschaft und Schriftführer im Skatvereine. Aber von allen diesen hat er sich niemals verleiten lassen, zum Ballett zu gehen!“
„Meine liebe Frau Nachbarin, unter dem Talent, von welchem ich spreche, verstehe ich ja die angeborene und zwingende Begabung zum Tanz.“
„Gutes Kind! Diese angeborene und zwingende Begabung haben wir alle, Männer wie Weiber, Burschen wie Mädels. Aber zum Ballett gehen wir schon lange nicht.“
„Nun, es muß unter dem künstlerischen Tanz doch noch etwas anderes zu verstehen sein als nur Walzer und Hopser und das Drehen und Springen wie im Ballett. In Maxens Tagebuch steht wörtlich, daß der Tanz dieser Amerikanerin ein mehr geistiger als körperlicher gewesen sei.“
„Das verstehe ich erst recht nicht! Wie soll der Geist tanzen? Das ist ja der reine Gespensterspuk!“
„Ja, wir mögen es nicht verstehen, aber Max versteht es sicherlich besser als wir. Er ist nicht der Mann dazu, sein Herz an ein niedriges Frauenzimmer zu verschenken. Er ist rein und edel. Er hat einen wirklich vornehmen Charakter. Nicht?“
„Ja, den hat er. Aber sie war dennoch Tänzerin!“
„Nun, sie ist doch auch noch etwas anderes gewesen.“
„Was denn?“
„Die einzige Erbin eines steinreichen Pflanzers.“
„Gott, ist's möglich?“
„Ja. Die Eltern waren
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