62 - Der verlorene Sohn 03 - Die Verlorenen
„Weshalb genieren?“
„Das ist brav und ohne Vorurteil. Ich bin ganz begeistert von der Idee. Oh, wenn Sie jetzt Zeit hätten, nur ein Viertelstündchen Zeit!“
„Wozu? Sie wollen doch nicht gleich an der Medea zu arbeiten beginnen?“
„Nein, das wäre unmöglich. Aber das Sujet möchte ich mir im Geiste fixieren. Ich möchte die Formen Ihrer, ja Ihrer Medea prüfen. Ich möchte nur einige leise Striche, einige leichte Konturen auf die Leinwand werfen. Wollen Sie?“
„Hm! Eigentlich bin ich jetzt beschäftigt.“
„Oh, nur eine Viertelstunde?“
„Aber das An- und Auskleiden nimmt ebensoviel Zeit in Anspruch.“
„Doch nicht. Meine Ansprüche erstrecken sich heute nur auf Ihren Oberkörper. Und das Haar möchten Sie ein wenig auf griechische Manier ordnen. Ich sage Ihnen, daß ich sehr, sehr dankbar sein werde.“
„Na, da Sie es sind, so will ich mich fügen.“
„Herrlich! Kommen Sie! Legen Sie ab! Hier auf dem roten Diwan nehmen Sie dann Attitüde, da in den Wiener Schal drapiert. Es wird prächtig sein. Sie werden sich entzückend ausnehmen, wie ich bereits jetzt konstatieren kann.“
Sie ließ sich nicht lange bitten. Sie legte ungescheut sämtliche Hüllen ihres Oberkörpers ab, brachte das Haar in andere Ordnung und streckte sich sodann auf den alten, verschossenen Diwan nieder, um sich dann mit den Falten des Wiener Wunderwerkes schmücken zu lassen.
Der Ballettmeister war nicht etwa ein Stümper. Er verstand seine Sache sehr gut, und er hatte recht gehabt. Als sie jetzt in liegender Stellung auf dem Diwan ruhte, den Kopf in die eine Hand gestützt und den andern vollen Arm in leichter Biegung dem üppigen Körper leise angeschmiegt, während eine der vollen Flechten sich liebkosend über den Busen schlängelte, welcher schneeweiß zwischen den Falten des Tuches hervorleuchtete, war sie eine treffliche Darstellung von Medea, jener wollüstigen und rachsüchtigen Königstochter aus der Zeit des Argonautenzuges.
Der Ballettmeister klatschte vor Entzücken in die Hände.
„So, so, Mademoiselle!“ rief er. „Sie sind eine Medea, wie ich sie selbst im Traum nicht gesehen habe. Bleiben Sie nur einige Minuten in dieser Stellung, damit ich die Konturen fixiere.“
In diesem Augenblick der Freude wurde er abermals von seiner Frau unterbrochen. –
Nämlich in einem Hinterhaus des Altmarkts, drei Treppen hoch, klebte an einer der vielen Stubentüren eine Karte mit der Bezeichnung ‚Max Holm, Reporter‘. In dem Zimmer hinter der Tür war es recht still. In einem alten Lehnstuhl saß ein schlafender Mann, dessen gelähmter und geschwollener Körper mittel eines Tuchs fest an die Lehne gebunden war.
Am Tisch saß ein junges, vielleicht achtzehn Jahre altes Mädchen und neben ihr eine alte Frau von gutmütigem Aussehen, welche eine altmodische Klemmbrille auf der Nase trug und fleißig an einem Strumpf strickte. Diese beiden sprachen miteinander, aber leise, so daß sie den Schläfer nicht weckten.
„Also Ihr Bruder weiß nichts davon?“ fragte die Frau in Fortsetzung ihres Gesprächs.
„Kein Wort.“
„Warum haben sie ihm denn nichts gesagt?“
„Weil der gute Max so schon genug Sorgen hat. Aber er wird es doch noch erfahren müssen. In acht Tagen wird der Jude Levi den Wechsel präsentieren.“
„Ja, Wechselsachen sind schlimme Sachen. Sie konnten das Geld wohl nicht auf eine andere Weise bekommen?“
„Nein. Der Jude kam und schrieb alles auf. Wir mußten es ihm scheinbar verkaufen und unterschrieben den Wechsel. Er gab uns dann einen Revers. Wenn wir nicht mit der Stunde zahlen können, nimmt er uns den Revers und alles, was wir noch haben.“
„Sollte es denn keine Hilfe geben? Wieviel verdient Ihr Bruder denn?“
„Er bringt es als Reporter zuweilen auf nicht ganz einen Gulden. Dann macht er täglich für dreiviertel Gulden Musik. Nun denken sie, daß wir leben müssen; Vater ist vom Schlag getroffen, und der andere Bruder soll doch nicht vom Gymnasium fort. Es wäre doch gar zu schade!“
„Das kostet freilich Geld, viel Geld, und es ist gar kein Wunder, daß Sie Tag und Nacht so fleißig nähen.“
„Ich tue es gern. Ja, wir haben auch bessere Zeiten erlebt, damals als der Vater noch gesund war.“
„Nicht wahr, er war Musikdirektor?“
„Ja. Max studierte und erlangte die Doktorwürde. Aber die Musik hatte es ihm angetan. Er liebte die Violine und brachte es sehr, sehr weit damit. Er ging nach Amerika, um Konzerte zu geben und verdiente sehr viel Geld.
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