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spiegelte sich schimmernd im Fluss.
»Es ist alles so schnell vorbeigegangen«, sagte der Engel. »Findest du, ich sah okay aus?«
»Im Film?«
»Ja. Ich sah komisch aus, nicht?«
»Nein ...«
Ich wollte sagen: »Du sahst wunderschön aus«, aber ich hatte eine total trockene Kehle, und die Worte kamen einfach nicht heraus. Neben dem Uferweg lag ein kleiner Park mit einer Wippe und Schaukeln. Wir setzten uns nebeneinander auf die Schaukeln. Sie gaben ein quietschendes Geräusch von sich, das ich erotischer fand als ein Gitarrensolo von Jimi Hendrix.
»Ich hatte immer das Gefühl, dass du mich an jemanden erinnerst«, sagte sie. »Heute ist mir eingefallen, an wen.«
»An wen?«
»Chuya Nakahara.«
In meinem Kopf herrschte solch ein Durcheinander, dass der Groschen zunächst nicht fiel. Ich konnte mich an keinen Schauspieler mit diesem Namen erinnern, aber es hatte mir auch sowieso noch niemand gesagt, dass ich wie ein Schauspieler aussähe. Dann fiel es mir ein: Chuya Nakahara war ein Dichter. Ein Dichter, der jung gestorben war.
»Jane ...« Mein Herz fühlte sich an, als würde es gleich platzen, aber ich fuhr fort und sagte, was ich schon zu sagen beschlossen hatte. »Bist du schon mal geküsst worden?«
Sie lachte. Es war mir so peinlich, dass ich von den Ohren bis zu den Zehen rot anlief. Nach einer Weile hörte sie auf zu lachen, schaute mir in die Augen und schüttelte den Kopf.
»Ist das merkwürdig?«, sagte sie. »Tun das denn alle?«
»Ich weiß nicht.« Es war eine bescheuerte Antwort, aber es war das Beste, was mir einfiel.
»Es ist komisch. Ich mag Lieder von Dylan und Donovan und solchen Leuten, aber ich habe noch nicht einmal jemanden geküsst.«
Wir hörten beide auf zu schaukeln, und der Engel schloss die Augen. Mein Herz klopfte und sagte: Mach schon mach schon mach schon mach schon mach schon. Ich stand von meiner Schaukel auf und stellte mich vor sie. Zu behaupten, dass mir die Knie zitterten, wäre eine gnadenlose Untertreibung gewesen, mein ganzer Körper bebte wie das Spiegelbild des Mondes auf dem Fluss. Das Atmen fiel mir schwer. Ich wollte wegrennen. Ich hockte mich hin und schaute auf die Lippen des Engels . Sie kamen mir wie ein wundersames, eigenständiges Lebewesen vor, anders als alles, was ich je zuvor gesehen hatte, ein wunderschönes Wesen, das blassrosa im schummrigen Licht des Mondes und der Straßenlaternen atmete und leise bebte. Ich hatte nicht den Mut, sie zu berühren.
»Jane«, flüsterte ich, und sie öffnete die Augen. »Lass uns in diesem Winter an den Strand gehen.«
Das zu sagen war alles, was ich tun konnte.
Der Engel lächelte und nickte.
IT’S A BEAUTIFUL DAY
Nach so einem Fest schleppt sich die Zeit dahin. Mein Vater erzählte mir einmal, wie er mich zu meinem ersten Tanz-der-Seelen-Festival mitgenommen hatte, in dem Sommer, als ich drei war. Offensichtlich war ich von der riesigen Trommel fasziniert, die hoch oben auf ihrem Gerüst stand, und watschelte durch die Menge von Menschen, die im Bann ihres pulsierenden Schlages tanzten, direkt darauf zu. Er sagte, als er mich dort mit leuchtenden Augen stehen sah, habe er sich das erste Mal meinetwegen Sorgen gemacht und sich gefragt, ob ich einer von denen würde, deren einziges Ziel im Leben es sei, herauszufinden, wo die nächste Party steigt.
Und er hatte sich zu Recht Sorgen gemacht. 1969, als ich siebzehn war, war es das Morgenlatten-Festival, aber auch heute, wo ich ein 32-jähriger Schriftsteller bin, bin ich offensichtlich immer noch auf der Suche nach neuen Vorwänden, neuen Möglichkeiten zu feiern. Der Rhythmus der Trommel, der mich mit drei Jahren faszinierte, verband sich mit dem Jazz der Fünfziger und der Rockmusik der Sechziger, und auf die eine oder andere Art führte mich das auf der Suche nach noch größeren und besseren Sensationen um die ganze Welt.
Ich bin mir nicht sicher, was genau der Rhythmus für mich bedeutete, aber ich nehme an, es war einfach das Versprechen von Spaß ohne Ende .
Der Winter in Sasebo hat etwas Leeres und Unwirkliches, aber ich stellte fest, dass ich mich auf ihn freute, denn Lady Jane und ich hatten uns versprochen, zusammen an den Strand zu gehen.
Der Tag, auf den wir uns einigten, war der Heiligabend. Wir trafen uns am Busbahnhof in der Stadt. Ich hatte meine Mutter bequasselt, mir für diesen Anlass eine McGregor-Jacke zu kaufen, indem ich ihr einige Stunden lang die Schultern massierte und Dinge sagte wie: »Natürlich geh’ ich auf die Uni.
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