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69

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Titel: 69 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ryu Murakami
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sollen.
    »Ja«, sagte der Engel.
    »Schau mal, was heute läuft. Du hast doch davon gehört, oder?«
    Mr. Allwissend. Der verhängnisvolle Bluff.
    »Nein.«
    »Es basiert auf einem Buch von Truman Capote. Es ist eines der großen Meisterwerke unserer Zeit.«
    Weil ich zum Sonnenuntergang am Strand sein wollte, sahen wir uns also schließlich einen Film an, der ganz bestimmt nicht für siebzehnjährige Pärchen gedreht worden war, die sich auf ihren ersten Kuss freuten. Es war im Stil eines Dokumentarfilms ein getreues Porträt zweier Männer, die ein elendes Leben führten, eine ganze Familie massakrierten und schließlich auf dem elektrischen Stuhl endeten. Den Schauspielern, die diese Charaktere darstellten, fehlten Zähne, der Film war schwarzweiß, die Szenen, in denen jemand erwürgt wurde, waren realistischer als unbedingt nötig und ließen sogar mich ein oder zwei Mal weggucken, und das Kino selbst hatte zerrissene, ramponierte Sitze und stank wie eine Toilette.
    Kaltblütig - das Nonplusultra aller abscheulichen Geschichten über ein wahres Verbrechen - dauerte ganze zwei Stunden und vierzig Minuten. Der Engel bedeckte immer wieder seine Augen und flüsterte: »Oh, nein!« oder »Ich kann es nicht fassen!« Es machte sie fertig. Ich selbst war so sehr von Müdigkeit und Bedauern überwältigt, dass ich hinterher nicht wusste, was ich zu ihr sagen sollte.
    »Sollen wir jetzt zu Mittag essen?«, fragte sie, als wir an dem windzerzausten Strand anlangten. Sie nahm einige Sandwiches aus ihrem Korb, die in Alufolie eingewickelt waren: Käse, Schinken, Eier und Gemüse, mit Petersilie dazu und kleinen feuchten Handtüchern, die wir als Servietten benutzen konnten. Es gab auch gebratenes Huhn. Die Hühnerstücke waren mit Alufolie umwickelt, damit man sie leichter essen konnte, und mit rosa Band zusammengebunden.
    »Sieht großartig aus«, sagte ich mit kräftiger Stimme, aber es fühlte sich an, als wären mein Mund, meine Speiseröhre und mein Magen mit Schmirgelpapier überzogen. Ich stopfte mir trotzdem die Backen mit einem Sandwich voll. Es blies ein starker Wind, weit draußen auf dem Meer tosten schaumgekrönte Wellen, und von Zeit zu Zeit wirbelte der Sand um uns auf, so dass wir unsere Gesichter bedecken und den Picknickkorb schließen mussten.
    »Der Film war ein ziemliches Ding, nicht?«, sagte sie und goss mir eine Tasse Tee aus der Thermosflasche ein.
    »Ziemlich anstrengend, meinst du?«
    »Irgendwie schon, ja.«
    »Tut mir Leid.«
    »Warum?«
    »Dass ich dich in so einen Film geschleppt habe ... das ist vielleicht ein Ausflug, was?«
    »Aber es ist ein Meisterwerk, nicht?«
    »Ja, das habe ich jedenfalls in einer Zeitschrift gelesen.«
    »Ich frage mich aber trotzdem, ob wir so was brauchen.«
    »Hm?«
    »Ich frage mich, ob wir solche Meisterwerke brauchen.«
    »Was meinst du damit?«
    »Es ist eine wahre Geschichte, richtig?«
    »Ja, es ist wirklich passiert.«
    »Aber warum müssen sie dann einen Film daraus machen? Ich weiß doch schon ...«
    »Du weißt was?«
    »Ich weiß, dass es Grausamkeit in der Welt gibt... Vietnam, und solche Sachen wie die Konzentrationslager der Nazis, aber ich sehe nicht ein, warum man Filme darüber machen muss. Wo liegt da der Sinn?«
    Ich hatte darauf keine Antwort, obwohl ich verstand, was sie sagen wollte. Welche Antwort konnte man schon einem Paar Rehaugen geben, das einen ansah und fragte, warum Menschen sich die Mühe machten, sich etwas Hässliches oder Perverses anzuschauen?
    Kazuko Matsui war ein sanftes und schönes Mädchen, das in einer liebevollen Umgebung aufgewachsen war. Vielleicht war die Welt, die in Capotes Geschichte beschrieben wurde, direkt nebenan, vielleicht war es notwendig, einen genauen Blick auf diese Dinge zu werfen, aber letztendlich war für sie eines wichtig, nämlich, wie sie es selbst ausdrückte, »ein Leben zu leben wie der Klang von Brian Jones’ Cembalo«.
    Wir ließen das Meer hinter uns. Wir hatten nicht einmal unsere Sandwiches aufgegessen - ganz zu schweigen davon, dass wir uns geküsst hätten.

    So ging das Jahr 1969 für mich zu Ende.

Adama ist jetzt Promoter in Fukuoka. Da er aus einer Bergarbeiterstadt in der Pampa kommt, war zu erwarten, dass er sich einen Beruf aussuchte, der so modern und westlich wie möglich ist. Nachdem ich vor neun Jahren meine Karriere als Schriftsteller gestartet hatte und mein erster Roman ein umstrittener Bestseller geworden war, kam er mich in einem Hotelklotz in Akasaka besuchen, in dem

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