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Die Mars-Stadt

Die Mars-Stadt

Titel: Die Mars-Stadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken MacLeod
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1    Das
Humanäquivalent
     
     
    Er erwachte mit der Erinnerung an seinen Tod. Seine Augen und
sein Mund waren offen, und er atmete keuchend die dünne Luft
ein. Seine Beine zuckten, seine Finger rieben sich am Sand. Dann
streckte er die Gliedmaßen und lag still. Sein Atem ging
rasch, als hätte er Angst, jeder Atemzug könne der
letzte sein. Er krallte die Finger in den Boden und sah zum
tiefblauen, unergründlichen Himmel auf.
    Er wälzte sich herum, richtete sich auf und schaute sich
um. Er befand sich auf dem Hang eines flachen Hügels am
Rande eines Kanals. Der Kanal war etwa zwanzig Meter breit. Auf
einem mehrere hundert Meter breiten Streifen beiderseits des
Kanals wuchsen dürres Gras und Gebüsch. Jenseits davon
hatte der Boden eine rötliche Farbe.
    Der Mann blickte in beide Richtungen des Kanals. Er reichte
von Horizont zu Horizont, eine blaue Linie inmitten eines
grünen Bandes, die den gewaltigen roten Kreis unter der
blauen Himmelswölbung in zwei Hälften teilte. Nahe dem
Zenit schien eine helle, kleine Sonne; der Mann sah zu ihr hoch,
dann reckte er den Daumen, als wollte er jemanden
grüßen. Er bewegte die Faust mit dem aufgerichteten
Daumen hin und her und peilte daran entlang. Dann nickte er
lächelnd.
    Ein paar Meter weiter oben am Hang war der Untergrund
geborsten, und unter der dünnen Erd- und Wurzelschicht trat
nackter Fels zu Tage. Inmitten der wahllos verstreuten Brocken
lag eine ellipsenförmige Kapsel von einem halben Meter
Durchmesser und fünfundzwanzig Zentimetern Dicke. Unter- und
Oberseite waren identisch und reflektierten das Licht; dazwischen
befand sich eine Art Umrahmung mit matteren, mit Scharnieren oder
Gelenken versehenen Stellen. Der Mann näherte sich der
Kapsel und untersuchte sie vorsichtig. Dann bückte er sich,
sah noch genauer hin und wandte sich jäh ab.
    Er lief zum Rand des Kanals und blickte eine Weile hinein. Er
legte die Kleidung ab – Stiefel und Socken, eine wattierte
Jacke, Hose, T-Shirt und Shorts – und fuhr sich mit der
Hand über den Körper, als wasche er sich ohne Wasser.
Dann zog er sich wieder an und ging zur Kapsel zurück.
    Er stemmte die Hände in die Hüfte und blickte
stirnrunzelnd darauf nieder. Er öffnete den Mund, schloss
ihn wieder, blickte sich um und zuckte die Achseln.
    »Ich heiße Jon Wilde«, sagte er. »Und
wer bist du?« Er machte nicht den Eindruck, als erwarte er
eine Antwort.
    »Ich bin eine Humanäquivalentmaschine«, sagte
die Kapsel, um einen angenehmen, umgänglichen Tonfall
bemüht. Der Mann zuckte leicht zusammen.
    »Ich werde mich jetzt aufrichten«, setzte die
Humanäquivalentmaschine hinzu. »Bitte erschrick
nicht.«
    Jon Wilde entfernte sich ein paar Schritte und trat dabei mit
den Stiefeln Erde und kleine Steine vom Hang los. Mit klickenden,
knirschenden Geräuschen entfaltete die Maschine aus dem
Mittelteil vier metallene Gliedmaßen. Sie wirkten
identisch, ausgestattet mit klauenartigen Fingern, Hand- oder
Fußgelenken, Ellbogen oder Knien. Zwei der Gliedmaßen
schwenkten nach unten, die mit Gelenken versehenen Fortsätze
setzten auf dem Boden auf. Die Maschine streckte die
Gliedmaßen und kam schaukelnd auf die Beine – wenn
man denn von Beinen sprechen wollte. Sie war etwa halb so
groß wie der Mann und erinnerte ein wenig an einen geduckt
laufenden Kämpfer mit gesenktem Kopf.
    Wilde sah darauf nieder.
    »Wo sind wir?«, fragte er.
    »Auf dem Neuen Mars«, antwortete die Maschine.
    »Wie bin ich hierher gekommen?«
    Das Schweigen währte etwa eine Minute. Wilde legte die
Stirn in Falten, schaute umher und beugte sich in dem Moment vor,
als die Maschine weitersprach:
    »Ich habe dich erschaffen.«
    Die Maschine wandte sich um und schritt davon.
    Wilde eilte ihr nach.
    »Wo willst du hin?«
    »Nach Ship City«, antwortete die Maschine.
»Zur nächsten Menschensiedlung.« Sie schwieg
für einen Moment. »Ich an deiner Stelle würde
mitkommen.«
     
    Die Humanäquivalentmaschine und der Mann, den diese
erschaffen haben wollte, gingen gemeinsam am Kanalufer entlang.
Hin und wieder schaute der Mann zur Maschine hin. Ein paarmal
machte er Anstalten, etwas zu sagen, wandte sich aber stets
wieder ab, so als wäre die Frage oder Bemerkung, die ihm
durch den Kopf ging, zu lächerlich, um sie in Worte zu
fassen.
    Nach einer Stunde und zwanzig Minuten blieb der Mann stehen.
Auch die Maschine hielt nach ein paar Schritten an und schaukelte
auf den

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