0448 - Der Nebel-Henker
In den Morgenstunden wurde sie von Raoul Graiss gefunden, der zur Arbeit wollte und mit seinem Peugeot 205 die Tote um ein Haar überrollt hätte, die halb auf dem schmalen Gehsteig und halb auf der holperigen Straße lag. Blaß, kali und leblos. Graiss war mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen und schaffte es gerade noch, den Wagen zu stoppen. Er sprang heraus, untersuchte den Leichnam und rief die Polizei.
Danach übergab er sich vor Grauen und war für den Rest des Tages nicht mehr sonderlich ansprechbar.
Inspektor Jean-Luc Rainier konnte ihn gut verstehen. Er hatte schon so viele Tote gesehen, daß es für ihn Routine war, doch dieser Fall lag anders. Die Verletzung, an welcher die Frau gestorben war, war einfach grauenhaft. Rainier fragte sich, was das für ein Mensch war, der sie auf diese furchtbare Weise ermordet hatte.
Zu identifizieren war sie nur durch die Papiere, die sie in der Handtasche bei sich trug. Marianne Delaide, 24 Jahre, ungebunden, elternlos, keine Geschwister. Ihre Vermieterin wußte, daß sie mit einem jungen Mann befreundet war, der ihr hin und wieder Besuche abstattete oder den sie ihrerseits aufsuchte, konnte aber nicht mit dem Namen des Mannes dienen. Sie konnte ihn nur beschreiben. In einem kleinen Dorf wie Lencouaqc war es zwar ungewöhnlich, daß nicht der eine den anderen wie seine Verwandten kannte, aber der junge Mann sollte von irgendwoher zugezogen sein.
Pierre Lanart, Rainiers Assistent, stöberte den jungen Burschen tatsächlich auf, der auf den Namen Brescon hörte, nur hatte dieser Poul Brescon ein wasserdichtes Alibi. Er arbeitete nachts und war mit dem Firmenbus abgeholt worden; zum gleichen Zeitpunkt hatte Marianne Delaide ihn verlassen. Brescon selbst konnte sich nicht vorstellen, daß sie Feinde hatte, die ihr nach dem Leben trachteten.
Vergewaltigung schied aber ebenso eindeutig aus wie Raubmord. Das Motiv blieb im unklaren. Es war einfach unvorstellbar, aus welchem Grund jemand das Mädchen auf eine so brutale Weise ermordet hatte.
Verwertbare Spuren gab es am Tatort und in seiner Umgebung auch keine. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört, und der Täter hatte nichts verloren, das einen Hinweis auf seine Identität geben konnte. Selbst die Tatwaffe gab Rätsel auf. Der Schlag mußte mit einer ganzen Reihe stumpfer Gegenstände gleichzeitig erfolgt sein; selbst der Gerichtsmediziner, der die Obduktion vorgenommen hatte, zweifelte an seinem Verstand.
Zwei Nächte später starb Monique Deveraux auf die gleiche rätselhafte Weise.
***
Obgleich beide Morde sich im ländlichen Raum abgespielt hatten, waren tags darauf die großen Zeitungen von Bordeaux bestens informiert. Irgend jemand mußte die Presse informiert haben. Rainier legte keinen Wert darauf, den Informanten herauszufinden; das Unheil ließ sich ohnehin nicht mehr rückgängig machen. In riesigen Schlagzeilen wurde behauptet, ein unheimlicher Massenmörder treibe im Verwaltungsbezirk Landes sein Unwesen und habe allein in dem kleinen Dorf Lencouaqc bereits zwei Opfer gefunden; die Bevölkerung sei in Unruhe. Nebenher wurde der Polizei, wie in solchen Fällen üblich, wieder einmal Unfähigkeit bescheinigt; der Artikel, der Rainier den Frühstücksappetit verdarb, gipfelte in der Frage, ob die Polizei überhaupt in der Lage sei, die Frauen vor dem unheimlichen Massenmörder zu schützen, oder ob sie weiterhin untätig zusehen wolle, wie noch weitere Morde geschahen.
Der Tenor in der Berichterstattung der anderen großen Zeitung war etwas gemäßigter, aber nicht weniger ärgerlich. Immerhin konnte nach den zwar bedauerlichen, aber immerhin nur zwei Morden noch nicht von einem Massenmörder die Rede sein, der den ganzen Verwaltungsbezirk in Panik versetzte!
Rainier nahm sich den verantwortlichen Redakteur zur Brust. Der berief sich auf die Pressefreiheit und verweigerte dem Inspektor weitere Aussagen zum Thema. Rainier stieß ihm den Zeigefinger gegen die Hemdbrust. »Sollten Sie in der morgigen Ausgabe auch noch berichten, die Polizei kümmere sich mehr um eine Zensur der Berichterstattung als um die Fahndung nach dem Mörder, mache ich Sie fertig, mein Bester. Sie bewegen sich mit Ihren Sensationsreportagen auf gefährlichem Glatteis. Haben Sie sich schon mal überlegt, daß jemand auf den fahrenden Zug aufspringen und als Trittbrettfahrer nun auch eine ihm seit langem mißliebige Person umbringen könnte, um den Mord unserem Täter in die Schuhe zu schieben? Wollen Sie dafür die Verantwortung
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