74 - Mein Leben und Streben
Religionsunterricht und wurde, als ich vierzehn Jahre alt geworden war, evangelisch-lutherisch konfirmiert. Aber zu einer Stellungnahme gegen Andersgläubige führte das keineswegs. Wir hielten uns weder für besser noch für berufener als sie. Unser alter Pfarrer war ein lieber, menschenfreundlicher Herr, dem es gar nicht in den Sinn kam, im Bereich seines Kirchenamts religiösen Haß zu säen. Unsere Lehrer dachten ebenso. Und die, auf die es hier am meisten ankam, nämlich Vater, Mutter und Großmutter, die waren alle drei ursprünglich tief religiös, aber von jener angeborenen, nicht angelehrten Religiosität, die sich in keinen Streit einläßt und einem jeden vor allen Dingen die Aufgabe stellt, ein guter Mensch zu sein. Ist er das, so kann er sich dann um so leichter auch als guter Christ erweisen. Ich hörte einst den Herrn Pastor mit dem Herrn Rektor über religiöse Differenzen sprechen. Da sagte der erstere: „Ein Eiferer ist niemals ein guter Diplomat.“ Das habe ich mir gemerkt. Ich habe bereits gesagt, daß ich an jedem Sonn- und Feiertag zweimal in die Kirche ging, doch ohne bigott zu sein oder mir dies gar als Verdienst anzurechnen. Ich habe täglich gebetet, in jeder Lage meines Lebens, und bete noch heut. Seitdem ich lebe, ist es mir keinen Augenblick lang beigekommen, an Gott, an seiner Allmacht, seiner Weisheit, Liebe und Gerechtigkeit, zu zweifeln. Ich bin auch heut noch unerschütterlich in diesem meinem felsenfesten Glauben.
Ich habe stets eine Hinneigung zum Symbolismus gehabt, und zwar nicht nur zum religiösen. Eine jede Person und eine jede Handlung, die etwas Gutes, Edles, Tiefes bedeutet, ist mir heilig. Darum machten einige religiöse Gebräuche, an denen ich mich als Knabe zu beteiligen hatte, auf mich einen ganz besonderen Eindruck. Der eine dieser Gebräuche war folgender: Die Konfirmanden, welche am Palmsonntag eingesegnet worden waren, beteiligten sich am darauffolgenden grünen Donnerstag zum ersten Mal in ihrem Leben an der heiligen Kommunion. Nur während dieser einen Abendmahlsdarreichung, sonst während des ganzen Jahres nicht, standen die ersten vier Kurrendaner je zwei und zwei zu beiden Seiten des Altares, um Handreichung zu tun. Sie waren genau wie Pfarrer gekleidet, Priesterrock, Bäffchen und weißes Halstuch. Sie standen zwischen dem Geistlichen und den paarweise herantretenden Kommunikanten und hielten schwarze, goldgeränderte Schutztücher empor, damit ja nichts von der dargereichten heiligen Speise verlorengehe. Da ich sehr jung zur Kurrende gekommen war, hatte ich dieses Amtes mehrere Male zu walten, ehe ich selbst zur Einsegnung kam. Diese frommen, gottesgläubigen Augenblicke vor dem Altar wirken noch heute, nach so vielen Jahren, in mir fort.
Ein anderer dieser Gebräuche war der, daß am ersten Weihnachtsfeiertag jedes Jahres während des Hauptgottesdienstes der erste Knabe der Kurrende die Kanzel zu besteigen hatte, um die Weissagung des Jesaias Kap. 9 Vers 2 bis mit Vers 7 zu singen. Er tat dies ganz allein, mit milder, leiser Orgelbegleitung. Es gehörte Mut dazu, und es kam nicht selten vor, daß der Organist dem kleinen Sänger zur Hilfe zu kommen hatte, um ihn vor dem Steckenbleiben zu bewahren. Auch ich habe diese Weissagung gesungen, und genauso, wie die Gemeinde sie von mir hörte, so wirkt sie noch heute in mir fort und klingt von mir hinaus bis in die fernsten Kreise meiner Leser, wenn auch in andern Worten, zwischen den Zeilen meiner Bücher. Wer als kleiner Schulknabe auf der Kanzel gestanden und mit fröhlich erhobener Stimme vor der lauschenden Gemeinde gesungen hat, daß ein helles Licht erscheine und von nun an des Friedens kein Ende sein werde, den begleitet, wenn er sich nicht absolut dagegen sträubt, jener Stern von Bethlehem durch das Leben, der selbst dann noch weiterleuchtet, wenn alle andern Sterne verlöschen.
Wer nicht gewöhnt ist, tiefer zu blicken, der wird jetzt wahrscheinlich sagen, daß ich auch hier wieder auf einen der Punkte gestoßen sei, an denen mir ein fester Halt nach dem andern unter den Füßen hinweggenommen wurde, so daß ich schließlich seelisch ganz nur in der Luft zu schweben hatte. Es ist aber grad das Gegenteil der Fall. Es wurde mir nichts genommen, sondern viel, sehr viel gegeben, zwar kein Halt und kein Unterschlupf in der Richtung nach der Erde zu, dafür aber ein Tau, stark und fest genug, mich an ihm emporzuretten, wenn unter mir der Abgrund sich öffnen sollte, dem ich, wie Fatalisten behaupten
Weitere Kostenlose Bücher