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74 - Mein Leben und Streben

74 - Mein Leben und Streben

Titel: 74 - Mein Leben und Streben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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würden, von allem Anfang verfallen war. Indem ich nun von diesem Abgrund zu sprechen beginne, betrete ich diejenigen Gegenden meiner sogenannten Jugend, in welcher die Sümpfe lagen und heut noch liegen, aus denen alle die Nebel und alle die Gifte stiegen, durch welche mein Leben mir zu einer ununterbrochenen, endlosen Qual geworden ist.
    Dieser Abgrund heißt, damit ich ihn gleich beim richtigen Namen nenne – Lektüre. Ich bin ihn nicht etwa hinabgestürzt, plötzlich, jählings und unerwartet, sondern ich bin ihn hinabgestiegen, Schritt um Schritt, langsam und absichtlich, sorgsam geleitet von der Hand meines Vaters. Freilich ahnte dieser ebensowenig wie ich, wohin dieser Weg uns führte. Meine erste Lektüre bildeten die Märchen, das Kräuterbuch und die Bilderbibel mit den Anmerkungen unserer Vorfahren. Hierauf folgten die verschiedenen Schulbücher der Vergangenheit und Gegenwart, die es im Städtchen gab. Dann alle möglichen anderen Bücher, die Vater sich zusammenborgte. Nebenbei die Bibel. Nicht etwa eine Auswahl biblischer Geschichten, sondern die ganze, volle Bibel, die ich als Knabe wiederholt durchgelesen habe, vom ersten bis zum letzten Wort, mit allem, was drin steht. Vater hielt das für gut, und keiner meiner Lehrer widersprach ihm da, auch der Pfarrer nicht. Er duldete nicht, daß ich, wenn auch nur scheinbar, müßig stand. Und er war gegen alle Beteiligung an den ‚Unarten‘ anderer Knaben. Er erzog mich, wie man Muster herausarbeitet, um sie andern anzupreisen. Ich mußte stets zu Hause sein, um zu schreiben, zu lesen und zu ‚lernen‘! Von dem Handschuhnähen wurde ich nach und nach befreit. Auch wenn er ausging, brachte mir das keine Erlösung, sondern er nahm mich mit. Wenn ich meine Altersgenossen auf dem Markt springen, tollen, spielen und lachen sah, wagte ich es nur selten, den Wunsch auszusprechen, mittun zu dürfen, denn wenn Vater keine gute Laune hatte, war dies höchst gefährlich. Saß ich dann betrübt oder gar mit heimlichen Tränen bei meinem Buch, so kam es vor, daß Mutter mich leise zur Tür hinaussteckte und erbarmend sagte: „So geh schnell ein bißchen hinaus; aber komm ja in zehn Minuten wieder, sonst schlägt er dich. Ich sag, ich habe dich wohin geschickt!“ Oh, diese Mutter, diese einzig gute, arme, stille Mutter! Wer da wissen will, wie und was ich noch heut über sie denke, der schlage in meinen ‚Himmelsgedanken‘ das Gedicht auf Seite 105 auf. Und das auf Seite 109 bezieht sich auf meine Großmutter, aus deren Seele die Gestalt meiner Marah Durimeh herausgewachsen ist, jener orientalischen Königstochter, die für mich und meine Leser als ‚Menschheitsseele‘ gilt.
    Als ich so ziemlich alles, was sich in Hohenstein-Ernsttal von Büchern jeden Genres in Privathänden befand, zusammengelesen und auch viel, sehr viel davon abgeschrieben bzw. notiert hatte, sah Vater sich nach neuen Quellen um. Es gab deren drei, nämlich die Bibliotheken des Herrn Kantors, des Herrn Rektors und des Herrn Pastors. Der Herr Kantor zeigte sich auch hier als der Vernünftigste von allen. Er sagte, Bücher zur Unterhaltung habe er nicht, sondern nur Bücher zum Lernen, und für diese letzteren sei ich jetzt noch viel zu jung. Aber er gab doch eines von ihnen her, denn er meinte, für mich als Kurrendaner sei es sehr nützlich, den lateinischen Text unserer Kirchengesänge in die deutsche Sprache übersetzen zu lernen. Dieses Buch war eine lateinische Grammatik, von welcher das Titelblatt fehlte, doch auf dem nächsten Blatt stand zu lesen:
    „Ein buer lernen muß,
Wenn er will werden dominus,
Lernt er aber mit Verdruß,
So wird er ein asinus!“
    Vater war ganz entzückt über diesen Vierzeiler und meinte, ich solle nur ja dafür sorgen, daß ich kein asinus sondern ein dominus werde. Also nun schnell und fleißig lateinisch lernen!
    Bald darauf faßten einige Ernsttaler Familien den Entschluß, im nächsten Jahre nach Amerika auszuwandern. Darum sollten ihre Kinder während dieser Frist soviel wie möglich Englisch lernen. Da verstand es sich ganz von selbst, daß ich mitzutun hatte! Und sodann geriet auf irgendeine, ich weiß nicht mehr, welche Weise ein Buch in unsern Besitz, welches französische Freimaurerlieder mit Text und Melodie enthielt. Es war im Jahre 1782 in Berlin gedruckt und ‚Seiner Königlichen Hoheit, Friedrich Wilhelm, Prinz von Preußen‘ gewidmet. Darum mußte es gut und von sehr hohem Wert sein! Der Titel lautete: ‚Chansons maçonniques‘, und zu

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