74 - Mein Leben und Streben
Städtchen gab. Ich habe niemals gehört, daß der Bürgermeister, der Pfarrer oder ein sonst hierzu berufener Beamter einen dieser Falschspieler zu sich kommen ließ, um ihn zu verwarnen, und von dem bösen Beispiel, welches der ganzen Gemeinde gegeben wurde, abzulassen. Man duldete es. Man ging schweigend darüber hinweg. Die Jugend aber, die das alles mit ansah und mit anhörte, mußte den Eindruck gewinnen, daß diese Betrügereien bewundernswerte und sehr gut lohnende Taten seien, und so ein Eindruck wird nie wieder verwischt. Mir wurde einst von einem Juristen gesagt, ich sei in einem Sumpf geboren worden. Ob dieser Herr wohl recht gehabt hat oder nicht?
Zwei eigenartige Gewächse dieses Sumpfes waren die beiden Namen ‚Batzendorf‘ und die ‚Lügenschmiede‘. Der erstere leitet sich auf die bekannte, alte süddeutsche und Schweizer Scheidemünze, Batzen genannt, zurück. Batzendorf war eine fingierte Dorfgemeinde, der jeder Einwohner Ernsttals beitreten konnte. Es war ein Jux, aber ein Jux, der häufig zum Ausarten kam. Batzendorf hatte seinen eigenen Gemeindevorstand, seinen eigenen Pfarrer, seine eigene Gemeindeverwaltung, das alles aber von der heiter sein sollenden Seite genommen. Das allerkleinste Häuschen Ernsttals, das der alten Gemüsehändlerin Dore Wendelbrück, wurde zum Batzendorfer Rathaus erhoben. Eines Morgens stand ein Turm darauf, den man aus Latten und Zigarrenkistchen gezimmert und der alten Dore auf das Dach gesetzt hatte, ohne sie zu fragen. Sie war aber sehr stolz darauf. Die Wirtin zum Meisterhaus war Dorfnachtwächter. Sie mußte die Stunden ansagen und tuten. Jede Behörde und jede Charge war vertreten, bis tief herunter zum Kartoffel- und zum Schotenwächter, auch das alles in das Komische gezogen. Des Sonnabends war Versammlungstag. Da kam die Gemeinde zusammen, und es wurden die tollsten Sachen ausgeheckt, um dann wirklich ausgeführt zu werden: Taufe fünfzigjähriger Säuglinge, Verheiratung zweier Witwen miteinander, eine Spritzenprobe ohne Wasser, Neuwahl einer Gemeindegans, öffentliche Prüfung eines neuen Bandwurmmittels und ähnliche tolle, oft sogar sehr tolle Sachen. Der Herr Stadtrichter Layritz war alt geworden und duldete das. Der Herr Pastor war noch älter und glaubte von allem das Beste. Er sagte immer: „Nur nicht übertreiben, nur nicht übertreiben!“ Damit glaubte er, seiner Pflicht genügt zu haben. Der Herr Kantor schüttelte den Kopf. Er war zu bescheiden, öffentlich mit einem Tadel hervorzutreten. Aber unter vier Augen hatte er den Mut, meinen Vater zu warnen: „Machen Sie nicht mit, Herr Nachbar, machen Sie ja nicht mit! Es ist nicht gut für Sie und auch nicht gut für den Karl! Was man da treibt, ist alles weiter nichts als Persiflage, Ironie, Verhöhnung und Verspottung von Dingen, an deren Heiligkeit ja niemand rühren soll! Und zumal Kinder sollen so etwas nie zu sehen noch zu hören bekommen!“
Er hatte sehr, sehr recht. Dieses ‚Batzendorf‘, in dem man nur mit Batzengeld zahlen durfte, hat eine ganze Reihe von Jahren bestanden und manche stille, heimliche, doch um so bösere Wirkung gehabt. Da lockerten sich ‚die Bande frommer Scheu‘. Da gab es wöchentlich etwas Neues. Wir Kinder verfolgten die Albernheiten der Erwachsenen mit riesigem Interesse und höhnten und persiflierten mit, freilich ohne uns dessen bewußt zu werden. Das ging so fort, bis ein neuer, strammer Zug in die Ortsverwaltung und in die Kirchenleitung kam, und Batzendorf an sich selbst zugrunde ging. Aber einen Nutzen hatte es keinem Menschen gebracht. Es war eine Versumpfung, in welche nicht nur die Alten gestiegen sind, sondern wir Jungen wurden auch mit hineingeführt und haben sehr viel von unserer Kindlichkeit drin stecken lassen müssen. Dem Unbegabten schadet das weniger; in dem Begabten aber wirkt es fort und nimmt in seinem Innern Dimensionen an, die später, wenn sie zutage treten, nicht mehr einzudämmen sind.
Die ‚Lügenschmiede‘ war etwas neueren Datums. Indem ich von ihr spreche, nenne ich absichtlich keine Namen. Ich will das, was ich sage, nur gegen die Sache selbst, nicht aber gegen Personen richten. Es gab in Ernsttal einige jüngere Leute, welche außerordentlich satirisch begabt waren. An sich sehr achtbare, liebenswürdige Menschen, hätten sie in andern, größeren Verhältnissen durch diese Begabung ihr Glück machen können, so aber blieben sie unten in den kleinen Verhältnissen hängen und konnten also auch nur Kleinliches und
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