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74 - Mein Leben und Streben

74 - Mein Leben und Streben

Titel: 74 - Mein Leben und Streben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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nach Spanien; ich hole Hilfe!“ Diesen Zettel legte ich auf den Tisch, steckte ein Stück trockenes Brot in die Tasche, dazu einige Groschen von meinem Kegelgeld, stieg die Treppe hinab, öffnete die Tür, atmete da noch einmal tief und schluchzend auf, aber leise, leise, damit ja niemand es höre, und ging dann gedämpften Schrittes den Marktplatz hinab und die Niedergasse hinaus, den Lungwitzer Weg, der über Lichtenstein nach Zwickau führte, nach Spanien zu, nach Spanien, dem Land der edlen Räuber, der Helfer aus der Not.

VIERTES KAPITEL
    Seminar- und Lehrerzeit
    Keine Pflanze zieht das, was sie in ihren Zellen und in ihren Früchten aufzupeitschen hat, aus sich selbst heraus, sondern aus dem Boden, dem sie entsprossen ist, und aus der Atmosphäre, in der sie atmet. Pflanze ist in dieser Beziehung auch der Mensch. Körperlich ist er freilich nicht angewachsen, aber geistig und seelisch wurzelt er, und zwar tief, sehr tief, tiefer als mancher Baumriese in kalifornischer Erde. Darum ist kein Mensch für das, was er in seiner Entwicklungszeit tut, in vollem Maße verantwortlich zu machen. Ihm alle seine Fehler vollauf anzurechnen, würde ebenso falsch sein wie die Behauptung, daß er alle seine Vorzüge nur allein sich selbst verdanke. Nur wer den Heimatboden und die Jugendatmosphäre eines ‚Gewordenen‘ genau kennt und richtig zu beurteilen weiß, ist imstande, einigermaßen nachzuweisen, welche Teile eines Lebensschicksals aus den gegebenen Verhältnissen und welche Teile aus dem rein persönlichen Willen des Betreffenden geflossen sind. Es war eine der größten Grausamkeiten der Vergangenheit, jedem armen Teufel, den die Verhältnisse zur Verletzung der Gesetze führten, zu seiner eigenen, vielleicht geringen Schuld auch noch die ganze, schwere Last dieser Verhältnisse mit aufzubürden. Es gibt leider auch heute mehr als genug Menschen, welche diese Grausamkeit sogar jetzt noch begehen, ohne zu ahnen, daß sie selbst es sind, die, wenn es hier Gesetze gäbe, mit verantwortlich gemacht werden müßten. Und gewöhnlich sind es nicht etwa die Fernstehenden, sondern grad die lieben ‚Nächsten‘, welche Stein um Stein auf den andern werfen, obgleich die Einflüsse, denen er unterlegen ist, besonders auch von ihnen mit ausgegangen sind. Sie tragen also an der Schuld, die sie auf ihn werfen, selbst mit Schuld.
    Wenn ich es hier unternehme, die Verhältnisse, aus denen ich erwuchs, einer ungefärbten Prüfung zu unterwerfen, so geschieht das nicht etwa in der Absicht, irgendwelchen Teil meiner eigenen Schuld von mir ab und auf andere zu werfen, sondern nur, um einmal durch ein laut sprechendes Beispiel zu zeigen, wie vorsichtig man sein muß, wenn man sich die Aufgabe stellt, eine menschliche Existenz nach ihrer Entstehung und Entwicklung hin genau zu untersuchen.
    Hohenstein und Ernsttal waren damals zwei so nahe beieinander liegende Städtchen, daß sie stellenweise ihre Gäßchen wie die Finger zweier gefalteter Hände zwischeneinander hineinschoben. In Hohenstein wurde der Naturphilosoph Gotthilf Heinrich von Schubert geboren, dessen Werke zunächst unter Schellingschem Einflüsse entstanden, dann aber sich dem pietistisch-sketischen Mystizismus zuwendeten. Seine Vaterstadt hat ihm ein Denkmal gesetzt. Aus Ernsttal stammt der verdienstvolle Philosoph und Publizist Pölitz, dessen Bibliothek über 30.000 Bände zählte, die er der Stadt Leipzig vermachte. Ich habe es hier weniger mit Hohenstein als vielmehr mit Ernsttal zu tun, in dem ich, wie der Hobble-Frank sich auszudrücken pflegt, ‚das erste Licht der Welt erblickte‘. Die ersten und ältesten Eindrücke meiner Kindheit sind diejenigen einer beklagenswerten Armut, und zwar nicht nur in materieller, sondern auch in anderer Beziehung. Niemals in meinem Leben habe ich so viel geistige Anspruchslosigkeit beisammen gesehen wie damals. Der Bürgermeister war ein unstudierter Mann. Es gab zwar einen Nachtwächter, aber die Bewohner hatten sich reihum an der Nachtwache zu beteiligen. Die Hauptbeschäftigung bildete die Weberei. Der Verdienst war kärglich, ja oft überkärglich zu nennen. Zu gewissen Zeiten gab es wochen-, zuweilen sogar monatelang wenig oder gar keine Arbeit. Da sah man Frauen in den Wald gehen und Körbe voll Reisig heimschleppen, um im Winter Feuerung zu haben. Des Nachts konnte man auf einsamen Pfaden Männern begegnen, welche Baumstämme nach Hause trugen, die noch während der Nacht zu Feuerholz zersägt und zerhackt werden mußten,

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