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74 - Mein Leben und Streben

74 - Mein Leben und Streben

Titel: 74 - Mein Leben und Streben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Gewöhnliches, oft sogar nur sehr Triviales leisten. Es war wirklich schade um sie!
    Einer von ihnen, vielleicht der Unternehmendste und Witzigste, brachte es zum Hausbesitzer und hatte die Kühnheit, in diesem Ernsttal, wo so wenig Sinn und Mittel für Delikatessen vorhanden waren, ein Delikatessengeschäft zu errichten, aber natürlich mit Restauration, denn ohne diese wäre es ganz unmöglich gegangen. Diese Restauration hatte zunächst keinen besonderen Namen; aber nicht lange, so wurde ihr einer gegeben, und zwar ein sehr bezeichnender. Man nannte sie die Lügenschmiede und ihren Besitzer, den Wirt, den Lügenschmied. Weshalb? Sowohl dem Wirt als auch seinen Stammgästen saß allen der Schalk im Nacken. Ein anderer konnte öfters dort verkehren, ohne daß er etwas davon bemerkte. Aber plötzlich brach es über ihn los, plötzlich, ganz unerwartet und mit einer Sicherheit, der nicht zu widerstehen war. Er wurde ‚gemacht‘, wie man es nannte. Man hatte seine schwächste Seite und seinen stärksten Nagel entdeckt und hing an diesem irgendeine wohlausgedachte Lüge auf, die er glauben mußte, er mochte wollen oder nicht. An dieser Lüge blamierte er sich, mochte er sich noch so sehr dagegen sträuben und mochte er zehnmal und hundertmal klüger sein, als alle die, welche beschlossen hatten, ihn zum Fall zu bringen. Diese Lügenschmiede wurde weithin bekannt. Tausende von Fremden kamen, um da einzukehren, und ein jeder, dem es etwa einfiel, mit dem Wirt und seinen Stammgästen anzubinden, nahm seine Backpfeife mit und zog beschämt von dannen.
    Gewöhnliche Gäste kaufte man sich billig. Verlangte einer ein Glas Bier, so bekam er einen Kognak. Begehrte er einen Schnaps, so erhielt er Limonade. Wollte er einen marinierten Hering essen, so setzte man ihm Kartoffeln in der Schale und Apfelmus vor. Und keiner weigerte sich, dies zu nehmen und zu bezahlen, denn jeder wußte, die Blamage kommt dann hinterher. Bessere Gäste ließ man warten. „Der muß erst noch reif werden“, pflegte der Lügenschmied zu sagen. Und jeder wurde reif, jeder, mochte er sein, wer oder was er wollte, ob studiert oder nicht studiert, ob hochgestellt oder niedrig. Es gab da oft geradezu geniale Witze, immer aber mit einem Einschlag aus dem Gewöhnlichen heraus. Einem Gast, der sich rasieren lassen wollte, wurde gesagt, der Barbier sei nicht zu Hause, sondern er sitze grad hier neben ihm. Dieser war aber kein Barbier, sondern ein Bäckermeister. Er seifte den Betreffenden mit Anilinwasser ein und rasierte ihn, ohne daß einer der Anwesenden eine Miene dabei verzog. Der Rasierte bezahlte und ging dann vergnügt von dannen, vollständig blau im Gesicht. Er konnte sich wochenlang nicht sehen lassen, zur Strafe dafür, daß er in der Lügenschmiede behauptet hatte, er sei gescheiter als alle, ihn könne niemand foppen. Einem andern Gast wurde weisgemacht, sein Bruder sei heut vormittag auf dem Jahrmarkt verunglückt. Er sei einem Riesenleierkasten zu nahe gekommen und mit dem rechten Bein in das Räderwerk geraten; man habe ihm infolgedessen das Bein unterhalb des Knies abnehmen müssen. Der Mann sprang erschrocken auf und rannte fort, kam aber sehr bald lachend und mit seinem vollständig gesunden Bruder zurück. Auch die Herren von der Behörde verkehrten sehr gern in der Lügenschmiede, doch nur zu Zeiten, in denen sie sich dort allein und unbeobachtet wußten. Sie ließen sich auch einen Ulk gefallen, und oft hatte der Lügenschmied es nur ihrem Einfluß zu verdanken, daß seine oft zu weitgehenden Witze ohne unangenehme Folgen blieben. Denn die Sache artete, wie alles, was unten aus dem Niedrigen stammt, nach und nach aus. Die Witze wurden gewöhnlicher; sie verloren den Reiz. Man hatte sich verausgabt. Und ein jeder, der die Lügenschmiede betrat, glaubte, Lügen machen und Unwahrheiten präsentieren zu dürfen. Der Geist ging aus. Was früher wirklicher Humor, wirkliche Schalkhaftigkeit und wirklicher Scherz und Schwank gewesen war, das wurde jetzt zur Zote, zur Zweideutigkeit, zur Unwahrheit, zur Fälschung, zur unvorsichtigen Klatscherei und Lüge. Die Lügenschmiede ist jetzt verschwunden. Das Haus wurde der Erde gleichgemacht. Leider aber sind die Folgen dieser unangebrachten Witzbolderei nicht auch verschwunden. Sie existieren noch heute. Sie wirken fort. Auch das war ein Sumpf, und zwar ein unter hellem Grün und winkenden Blumen verborgener Sumpf. Nicht nur die Ortsseele hat unter ihm gelitten, sondern seine Miasmen sind auch im

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