80 Days - Die Farbe der Erfüllung: Band 3 Roman (German Edition)
dass mir das Handy fast aus der Hand geglitten wäre. Der Anruf kam aus Neuseeland, die Nummer war jedoch nicht unter meinen Kontakten gespeichert.
Eher zögerlich nahm ich den Anruf entgegen. Mit meiner Familie sprach ich nur sehr selten am Telefon. Wir waren einfach nicht die kommunikativen Typen und tauschten uns lieber per E-Mail oder Skype aus. Außerdem war es in Neuseeland schon spät am Abend.
»Hallo?«
»Hey, Sum, wie geht’s, wie steht’s?«
»Fran?«
»Erkennst du mich etwa nicht mehr, Schwesterherz? So lange ist es nun auch nicht her.«
»Natürlich erkenne ich dich. Ich hatte nur nicht mit dir gerechnet. Wie spät ist es bei euch?«
»Ich konnte nicht schlafen. Und habe nachgedacht.«
»Pass bloß auf, dass dir das nicht zur Gewohnheit wird.«
»Ich möchte dich besuchen.«
»In New York?«
»Um ehrlich zu sein, lieber in London, aber in der Not frisst der Teufel Fliegen. Mir geht Te Aroha auf den Geist.«
Nie hätte ich damit gerechnet, solche Worte aus dem Mund meiner älteren Schwester zu hören. Zwar fiel sie in unserem Heimatstädtchen Te Aroha auf wie ein bunter Hund und passte in meinen Augen überhaupt nicht in eine kleinstädtische Umgebung, aber inzwischen hatte sie mit ihren dreißig Jahren ihr ganzes Leben dort verbracht. Seit Ende ihrer Schulzeit arbeitete sie in der örtlichen Bankfiliale, also zirka zwölf Jahre in praktisch demselben Job. Angefangen hatte sie am Schalter, dann hatte sie sich zur Teamleiterin und schließlich zur Anlageberaterin hochgearbeitet, ohne außer den bankinternen Schulungen eine Ausbildung absolviert zu haben. Ich war die Einzige aus meiner Familie, die eine Hochschule besucht hatte, allerdings auch nur für ein Jahr.
Ich sah sie lebhaft vor mir. In New York war es Samstagvormittag, also würde es bei ihr mitten in der Nacht von Samstag auf Sonntag sein. Bestimmt saß sie in kurzen Jeans und einem neonfarbenen, löchrigen T-Shirt im Punk-Stil der Achtziger in ihrem Cottage und zappelte herum, wie sie es immer tat, fuhr sich mit der Hand durch das kurz geschnittene, wasserstoffblond gefärbte Haar oder wickelte sich eine Stirnfranse um den Finger. Wahrscheinlich war es heiß, denn in Neuseeland war jetzt Hochsommer. Allerdings zog es in ihrem alten Häuschen, und in Te Aroha war es immer ein bisschen kühler als anderswo, als läge das ganze Städtchen im Schatten des Bergs.
»Wie kommt’s?«, fragte ich sie. »Ich dachte, du bleibst für immer dort.«
»Nichts dauert ewig, oder?«
»Nein, aber es ist doch ein gewisser Sinneswandel deinerseits. Ist irgendwas passiert?«
»Ich weiß nicht, ob ich’s dir erzählen soll. Mum hat mir abgeraten.«
»Um Himmels willen, jetzt rück raus damit. So kannst du mich nicht hängen lassen.«
Inzwischen schritt ich nur noch flott voran, und da mir dabei der federnde Schwung des Joggens fehlte, rutschte ich ständig aus. Außerdem fror ich ohne die anstrengende, wärmende Bewegung. Die Finger meiner nicht mehr behandschuhten Hand waren durch die Kälte knallrot und fingen zu pochen an.
»Fran, ich bin gerade mitten im Central Park, bei Minusgraden. Wenn ich nicht sofort wieder losrenne, erfriere ich. Aber ich kann nicht gleichzeitig laufen und reden. Also spuck’s aus, und ich rufe dich zurück, sobald ich wieder zu Hause bin.«
»Mr. van der Vliet ist gestorben.«
Das sagte sie so sanft, als wollte sie den Schlag abmildern, den sie mir damit versetzte.
»Dein Geigenlehrer …«, setzte sie hinzu, um die Stille zu durchbrechen, die sich zwischen uns ausbreitete.
»Ich weiß, wer er ist!«
Dabei blieb ich stehen. Die eisige Luft umfing mich wie eine Decke aus Stahl.
Fran am anderen Ende der Leitung sagte nichts.
»Wann? Was ist passiert?«, brachte ich schließlich heraus.
»Das wissen sie nicht. Man hat seine Leiche im Fluss gefunden, dort wo seine Frau umgekommen ist.«
Mr. van der Vliets Frau war an dem Tag gestorben, an dem ich geboren wurde. Es hatte geregnet, und als sie auf dem Heimweg von Tauranga durch die Karangahake-Schlucht fuhr, war ihr Auto auf der nassen Straße ins Rutschen geraten. Sie verschätzte sich in einer der engen Kurven und kollidierte mit einem entgegenkommenden Laster. Dem Fahrer des anderen Fahrzeugs fehlte nichts, er hatte nicht einmal einen Kratzer abgekriegt, aber Mrs. van der Vliets Wagen kam von der Straße ab, überschlug sich und stürzte in den Fluss. Noch ehe ihr jemand zur Hilfe eilen konnte, war sie ertrunken.
»Wann?« Das Wort blieb mir in der Kehle
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