Die Liebesbloedigkeit
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Ich betrachte eine junge Mutter, die sich eine Daumenspitze anfeuchtet und ihrem kleinen Kind einen braunen Fleck auf der rechten Wange wegreibt. Das Kind schließt die Augen und hält der Mutter ruhig das Gesicht hin. Danach folge ich einer offenbar verwirrten Frau, die kurz nacheinander drei halbvolle Mülltonnen umwirft und dabei halblaut schimpft, dann aber umkehrt und die Mülltonnen wieder aufstellt. Zwei Halbwüchsige springen mehrmals auf die untere Plattform einer Rolltreppe, um sie zum Stillstand zu bringen. Aber die Rolltreppe leistet Widerstand und bleibt nicht stehen. Die beiden Jungen verhöhnen dafür die Rolltreppe und ziehen dann weiter. Wieder tritt die Frage an mich heran, ob ich mich für das, was um mich herum geschieht, interessieren soll oder nicht. Über die Breite einer ganzen Schaufensterscheibe steht mit großen weißen Buchstaben: Zwei Pizzen zum Preis von einer. Ich überlege, ob ich mit Sandra oder Judith dieses Lokal besuchen soll. Aber Sandra mag keine Pizzen und Judith keine Steh-Lokale. Gegen meinen Willen denke ich im Weitergehen über das Pizza-Angebot nach. Es kann nur funktionieren, wenn man gerade jemanden bei sich hat, der zufällig ebenfalls Hunger und außerdem ein bißchen Zeit und nichts gegen diese Pizzeria, das heißt vor allem nichts gegen die fürchterliche Musik einzuwenden hat, die aus der offenen Tür auf die Straße herausdröhnt. Diese Voraussetzungen treten vermutlich niemals gleichzeitig ein. Ein Scheinangebot! denke ich still triumphierend und vergesse die Pizzeria. Ich schaue einem Sightseeing-Bus nach und belustige mich ein bißchen über ihn. Unsere Stadt glaubt, sie sei sehenswert, und läßt in den Sommermonaten zwei oder drei richtige Doppeldecker-Busse durch die Straßen fahren. Erstaunlich ist, daß es pro Fahrt immer wieder vier oder fünf Personen gibt, die sich tatsächlich auf den Oberdecks der Busse verteilen und das Spiel mitmachen. Offenbar fällt niemandem auf, daß es pro Rundfahrt zwischen sechzig und siebzig frei bleibende Bus-Plätze gibt, die den Anspruch der Sehenswürdigkeit genauso still verhöhnen, wie ich ihn bemerke. Ein kurzsichtiger Mann geht dicht an mir vorüber und zählt das Kleingeld in seiner Hand. Ein anderer Mann, der an einem Brötchen kaut, hat plötzlich keine Lust mehr am Essen und legt das halb aufgezehrte Brötchen auf einem Fenstersims ab. Mich fesselt eine verwahrloste Frau, die neben dem Eingang eines Kaufhauses steht und junge Katzen verkauft. Zwei Tiere trägt sie auf der Armbeuge, weitere Tiere befinden sich in einem Karton, der zu ihren Füßen steht. Ein ebenfalls verwahrlostes Kind hält den Deckel des Kartons zu. Zwei größere Kinder tun so, als seien sie behindert. Sie legen ihre nach vorne gestreckte Zunge auf die Unterlippe und lallen dazu. Sie können die Verstellung nicht lange durchhalten, dann brechen sie in Gelächter aus. Ich weiß nicht, warum mich die Kinder an meinen ersten Schultag im Gymnasium erinnern. Bevor der Unterricht losging, trat damals eine Ärztin vor die Klasse und sagte, daß wir untersucht werden. Sie rief die Kinder in alphabetischer Reihenfolge auf und griff jedem Jungen in die Hose. Sie griff am Penis vorbei und suchte nach den Hoden. Denn sie mußte nachprüfen, daß die Hoden richtig nach außen getreten waren und ordentlich in dem für sie vorgesehenen Säckchen lagerten. Zwei Jungen (einer von ihnen war ich) fielen in Ohnmacht, vermutlich deswegen, weil wir so den Nachforschungen der Ärztin aus dem Weg zu gehen hofften. Tatsächlich durften wir uns eine Weile auf eine Bank legen und schienen gerettet. Aber als wir wieder zu uns kamen, öffnete uns die Ärztin unter den Blicken der Klasse den Hosenladen und überprüfte, jetzt sogar bei heruntergelassenen Hosen, per Augenschein die Lage unserer Hoden. Ich frage mich, warum mein Gedächtnis diese Szene aufbewahrt hat. Sandra hat mir am Telefon den Auftrag gegeben, ich solle ein paar Pfirsiche, ein Viertel spanische Salami und ein kleines Weißbrot mitbringen. Ich werde den heutigen Abend und die Nacht bei Sandra verbringen. Sandra wird wie üblich kochen, wir werden zusammen essen und plaudern, dann ein wenig fernsehen und früh ins Bett gehen.
Sandra ist dreiundvierzig Jahre alt, sie ist einen Kopf kleiner als ich, sie hat dunkle Augen und kurzgeschnittenes Haar, eine gute Figur und eine ausreichende Bildung, die sie jedoch als mittelmäßig empfindet. Sandra ist mitteilsam, glaubt jedoch, sich nicht ausdrücken zu
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