Abaton
etwas passiert?“, fragte er Edda.
Sie erklärte ihm, dass ihre Mutter bis heute in einer Anstalt in der Nähe von Berlin gewesen sei. Der Arzt fragte, ob er die Entlassungspapiere sehen könne. Edda ging ins Gästezimmer, um die Tasche ihrer Mutter zu holen. Sie öffnete die Tasche und sah, dass sich darin lediglich der Schlüssel mit dem Anhänger befand, auf dem die Berliner Adresse stand.
Ohne nachzudenken, steckte Edda den Schlüssel ein.
Dann schaute sie in die Schränke und ins Bad. Nichts. Ihre Mutter hatte nicht einmal eine Zahnbürste mitgebracht.
Der Arzt nickte, als Edda es ihm erzählte. Er ging zum Telefon im Wohnzimmer und kam wenig später zurück. „Deine Mutter ist aus der Anstalt entwichen. Wir werden sie zurückbringen müssen. Aber heute Nacht kommt sie erst einmal zu uns ins Krankenhaus.“
„Wie alt bist du denn?“, fragte der Arzt dann.
„14“, sagte Edda wahrheitsgemäß und wusste im selben Augenblick, dass es ein Fehler gewesen war.
„Die Zentrale sagt, dass du heute Abend die Polizei angerufen und gemeldet hast, dass deine Großmutter verschwunden ist.“
„Sie hat inzwischen angerufen … sie wird bald zurück sein.“ Edda spürte, dass der Arzt ihr die Lüge anmerkte.
„Es ist besser, wenn du mitkommst“, sagte er.
Edda zögerte einen Augenblick. „Okay. Ich pack nur ein paar Sachen ein“, sagte sie dann und rannte die Treppe hinauf in ihr Zimmer, wo sie das Nötigste in ihren Rucksack stopfte. Dazu Maries Tagebuch und die Fotos. Durch das Fenster sah sie, wie ihre Mutter auf eine Trage geschnallt in den Notarztwagen geschoben wurde und wie der Arzt telefonierte.
Im Notarztwagen fuhr Edda mit in die Klinik. Dort saß sie auf dem Gang und hielt die Hand ihrer Mutter, mit der sie hinter einem Vorhang auf die Untersuchung wartete. Die Beruhigungsspritze hatte sie müde und gleichgültig werden lassen. Sie dämmerte vor sich hin und lächelte Edda ab und zu an.
„Waren es die Blitze?“, fragte Edda leise.
„In mir ist etwas, das von außen gerufen wird“, sagte die Mutter. Sie sprach schleppend.
„Der Arzt hat gesagt, es ist Schizophrenie.“
„Das nennen sie so. Aber ...“ Sie schüttelte den Kopf. „Als wir aus Indien zurück waren, ist es plötzlich wiedergekommen. Bei Marie im Haus. Es hat mit Gewittern zu tun ...“
Edda starrte sie an. „Ist es ...?“
„Was?“
Edda wusste nicht, ob sie die Frage stellen sollte.
„Ich habe Angst, dass ich diese Krankheit auch bekomme.“
Am Schweigen ihrer Mutter erkannte Edda, dass das nicht ausgeschlossen war. Aber sie wollte ihre Mutter jetzt nicht noch zusätzlich belasten. Stattdessen holte sie den Brief aus dem Rucksack, den sie zusammen mit dem Foto von dem Palmblatt in dem alten Umschlag gefunden hatte, und zeigte ihn ihrer Mutter.
„Hast du das geschrieben?“
Diese schüttelte den Kopf. „Nein, Marie.“
„Was ist das für eine Wohnung?“, fragte Edda und hielt den Schlüssel mit dem Anhänger hoch, auf dem die Berliner Adresse stand.
„Ich war noch nie dort. Sie wollte es nicht. Ich dachte, wir könnten da ... wir beide könnten dort zueinanderfinden, nicht?“ Sie schloss die Augen. Edda rührte der letzte Satz. Der Vorhang wurde zur Seite gezogen und Eddas Mutter von einer Schwester zur Untersuchung geholt.
„Draußen ist eine Frau von der Polizei, die kümmert sich um dich“, sagte die Schwester zu Edda.
Edda nickte. „Ich komm gleich.“
„Tschüss!“, sagte sie leise zu ihrer Mutter. Dann ging sie auf den Gang hinaus.
Edda sah in der Wartezone die Polizistin stehen, die sich um sie kümmern sollte. Sie konnte jetzt zu dieser Frau gehen und sich betreuen lassen wie ein Kind. Sie konnte aber auch wie eine mutige, junge Frau losmarschieren und herausbekommen, was all die seltsamen Ereignisse der letzten Tage mit ihrem Leben zu tun hatten. Was war los mit ihrer Mutter, mit Marie, mit der ganzen Familie? War die Großmutter in Berlin? War der Schlüssel ein Zeichen oder ein Zufall? Sie fühlte den Schlüssel in ihrer Hand.
Sie wartete einen Moment ab, in dem sich die Polizistin wegdrehte. Dann schlüpfte Edda an ihr vorbei und in die Nacht hinaus.
Das Gewitter hatte sich verzogen. Edda stieg in einen Bus, der sie zum Bahnhof bringen würde. Auf der Fahrt dorthin sah sie eine Reihe Lastwagen, die am Fischereihafen mit Fracht beladen wurden. Edda stieg an der nächsten Station wieder aus. Sie lief an den Lastwagen entlang und betrachtete die Kennzeichen. Als sie ein Berliner
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