Abaton
hatte Edda über den Rand ihrer schnittigen Sonnenbrille gefragt.
Aber was sollte Linus auch anderes tun, bei einem solchen Mädchen? Er musste einfach glotzen. Auf die Haare, die Lippen. Die Beine. Die nackt in Stiefeln steckten. Obwohl die Sonne schien, zauberte der Herbst diese wunderbare Gänsehaut auf ihre Arme und Beine, wodurch die goldenen Härchen aufstanden und im Licht glänzten.
„Ich glotz ja gar nich’. Er glotzt!“, sagte er noch und deutete, um abzulenken, auf den ihm unbekannten Jungen neben sich. Simon. Der begriff gar nicht, worum es ging. Simon sah zu Linus, sah zu Edda. Fraglos dämlich war da für diesen Moment sein Gesichtsausdruck. Sodass Edda, „Ihr Spasten!“ murmelnd, sich von den beiden abwandte und mit ihrem Rollkoffer weiter zum großen Küchen- und Verwaltungszelt holperte. Um sich anzumelden. Synchron neigten sich die Köpfe von Linus und Simon zur Seite, als könnten sie mit den Blicken noch ein bisschen mehr von Eddas schlanken Beinen unter dem atemberaubend kurzen Rock erhaschen. Als Edda im Zelt verschwand, konnten beide ein Seufzen nicht verhindern.
„Zicke!“, sagte Linus.
„100 Prozent. Kannste vergessen!“, stimmte Simon mit sonorer Stimme zu. Einigkeit verbindet. Vor allem, wenn man erst 14 ist. Und erst recht, wenn es um Mädchen geht. Und da beide sowieso niemand anderen kannten, beschlossen sie, gemeinsam eines der Zelte zu beziehen. Die Nummer fünf war noch frei.
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Kaum etwas an diesem sonnigen ersten Tag im Camp hätte selbst dem schärfsten Beobachter verraten können, dass sich hier und heute eine Kritische Masse bilden würde, die aus genau diesen drei Jugendlichen bestand. Jugendliche, die eines Tages in der Lage sein sollten, die ganze Welt zu verändern ... Edda, Simon und Linus.
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Und die Ironie der Geschichte war, dass Edda um ein Haar gar nicht dabei gewesen wäre. Doch dieser dämliche „Zukunfts“-Wettbewerb war ihre Chance gewesen, ihre miserable Deutschnote zu verbessern und so die Versetzung doch noch zu schaffen. Marie, ihre Großmutter, hatte ihr die Teilnahme nahegelegt. Und Edda hatte sich darauf eingelassen, zumal es die einzige Möglichkeit war, mit Marco in einer Klasse zu bleiben. Außerdem hatte Marco ebenfalls an dem Wettbewerb teilgenommen und gewonnen. Und jetzt hoffte sie, ihn hier zu treffen.
Ach Marco ...
Edda hatte getan, was sie immer tat, wenn sie keine Lust hatte, sich in schulischen Dingen anzustrengen. Sie hatte der klugen, bebrillten und bulimischen Sophie geschmeichelt, die ab und zu ihre beste Freundin war. Und hatte wie immer von deren ausgeprägtem Helfersyndrom profitiert. An einem einzigen Nachmittag hatte Sophie zehn Seiten über die Zukunft verfasst. Ja, so nannte es Sophie. Sophie schrieb nicht einfach nur, sie verfasste. Edda hatte es ihr mit einer coolen Shoppingtour in Bremen gedankt und Sophies Arbeit einfach unter ihrem eigenen Namen abgegeben. Edda hatte keine Ahnung von der Zukunft. Behauptete sie. Wozu sollte sie an die Zukunft denken, wenn sie schon mit ihrer Gegenwart nicht zurande kam? Im Übrigen hatte sie keinen blassen Schimmer, welche Art von Zukunft Sophie in dem Aufsatz heraufbeschworen hatte. Der Text war Edda zu kompliziert gewesen. Sie hatte Kopfschmerzen bekommen von Sophies Theorien. So wie sie immer Kopfschmerzen von Sophie bekam. Am schlimmsten war es bei der dreistündigen Shoppingtour, die sie Sophie für die Arbeit an der Zukunft versprochen hatte. Drei Stunden musste Edda Sophie trösten, weil sie mit ihrer klapperdürren Figur mal wieder nichts zum Anziehen fand. Außerdem hatte Sophie überhaupt keinen Geschmack bei Klamotten. Aber Edda hatte ihr bereitwillig alle angesagten Shops und Tricks gezeigt, die sie kannte. Sophie konnte ihr nicht gefährlich werden ... sie war eine Außenseiterin. Wie Edda im Grunde auch.
Ach Scheiße!
Edda hasste es, wenn ihre Gedanken so ins Nichts abschweiften, wie jetzt, als sie vor dem großen Zelt stand und nicht wusste, ob sie hineingehen sollte. Das konnte ewig dauern, dass sie da stand und sich die Welt von Hölzchen auf Stöckchen erdachte. Wie ein Puzzle von einer weißen Wolke. Manchmal fragte sie sich, wie es wäre, wenn sie nie mehr aus diesen Gedanken zurückkäme?
Edda fürchtete sich davor, sich in den Gedanken zu verlieren, und doch kam sie ihnen nicht aus. Sie hatte nicht die geringste Ahnung, woher all diese Gedanken kamen. Und bisweilen hatte sie Angst, „dem Wahnsinn anheimzufallen“, wie es so schön
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