0754 - Als Carmen sich die Köpfe holte
Die Augen erinnerten an kalte, dunkle Spiegel. Das Haar hielt Carmen durch ein Stirnband zusammen. Sie trug bequeme Kleidung, in der sie sich auch hier draußen bewegen konnte, und die Kleidung war dunkel. So fiel es nicht auf.
Carmen kannte den Weg. Sie hätte ihn auch mit verbundenen Augen gefunden. Er war für sie nicht mehr beschwerlich, andere Menschen hätten sich schwerer damit getan, die junge Frau aber stieg mit langen Schritten den gewundenen Pfad hoch, der den letzten Rest der Bergflanke an der Westseite durchschnitt.
Es lief wie immer.
Zweimal schaute sie sich um. Den kleinen Ort im Tal konnte sie nicht mehr sehen. Eine samtblaue Dunkelheit hielt ihn versteckt. Um dort ein Licht zu sehen, war sie zu weit entfernt.
Manchmal lösten sich kleine Steine unter ihren Füßen. Es waren die einzigen Geräusche.
Nach einer breiten Kurve endete der Weg. Er lief praktisch auf einem flachen Plateau aus, von dem aus Carmen eine sehr gute Sicht hatte, auch in der Nacht.
Die Landschaft interessierte sie nicht. Für sie war nur das Ziel wichtig, dem sie sich mit einer knappen militärisch wirkenden Bewegung zuwandte.
Ihr Blick fiel auf die Felsen.
In der Dunkelheit wirkten sie wie ein übergroßes Spielzeug, an dem ein Kind gebaut hatte, aber nicht mehr fertig geworden war, weil die Mutter es ins Bett geschickt hatte.
Der Vergleich mit einer Mondlandschaft traf zwar nicht zu, aber was sich hier auf dieser breiten Bergkuppe verteilte, waren die Reste einer alten Festung, die nicht einmal mehr von schwitzenden Touristen besichtigt wurden, da es sich einfach nicht lohnte. Es gab keine intakten Räume mehr, es standen zwar noch Mauern, die aber waren längst verfallen. Manche von ihnen sahen so aus, als hätte jemand mit einem gewaltigen Hammer auf sie eingeschlagen und sie so brutal zerstört, daß sich die Reste in der Gegend verteilt hatten.
Freiwillig ging hier niemand hin. Die Ruine war verlassen, seit Jahrhunderten schon Wind und Wetter preisgegeben und praktisch ohne Leben. Es sei denn, man stand auf Eidechsen und Schlangen, die am Tage oft genug auf den blanken Felsen lagen und ihre Körper den Sonnenstrahlen feilboten.
Das wußte Carmen alles.
Doch am Tage kam sie nur selten her. Sie war eigentlich nur dreimal an diesem Ort gewesen und das wiederum zu verschiedenen Zeiten, weil sie sich einen Plan von dieser Gegend hatte machen wollen.
Jetzt kannte sie hier jeden Stein.
In dieser Nacht war sie wieder unterwegs. Sie trug dünne Handschuhe, um den Schwertgriff besser fassen zu können.
Sie stand auf dem Plateau wie eine finstere Göttin. Blitzschnell bewegte sie den rechten Arm.
Nach rechts, nach links, nach oben und auch nach unten. Das Schwert machte die Bewegung mit. Es schnitt durch die Luft, und das dabei entstehende pfeifende Fauchen übertönte auch das Jammern des Windes, der hier immer wehte.
Carmen war mit sich zufrieden. Sie beherrschte die Kunst des Fechtens. Sie dachte daran, daß sie mal in Toledo gewesen war, in dieser Stahlstadt, da wurden die Kinder praktisch mit der Klinge groß. Der Stahl aus Toledo hatte in der Welt nach wie vor noch einen sehr guten Klang.
Ihr Bewußtsein hatte sich voll und ganz auf die neue Aufgabe eingestellt. Nichts würde sie jetzt abhalten können. Sie war innerlich kalt geworden.
Man hätte sie auch als eine Kampfmaschine bezeichnen können. Carmen wußte genau, daß es sie gab, einige hatte sie vernichten können, aber sie wußte nicht, wie viele es waren. Vielleicht sogar hundert und mehr, aber sie würde nicht aufgeben, bis sie alle erschlagen hatte.
In manchen Nächten war sie auch vergeblich hier oben gewesen. Da hatte sich keine der Bestien gezeigt. Es konnte auch sein, daß sie noch nicht erweckt worden waren. Jedenfalls würde sie nicht aufgeben, und irgendwann gab es sie dann nicht mehr.
Mit anderen Menschen hatte sie über ihr Vorhaben nicht sprechen können. Die hätten ihr nicht geglaubt, die hätten ihr gewisse Dinge auch nicht zugetraut, aber sie war nicht mehr das kleine verwöhnte Mädchen, als welches sie ihre Eltern hatten aufwachsen lassen. Sie war jetzt eine Frau von dreißig Jahren, die genau wußte, was sie wollte und sich von ihrem Weg nicht abbringen ließ.
Dabei kam ihr zugute, daß sie finanziell unabhängig war. Ihre Eltern besaßen Vermögen und Grundbesitz, außerdem hatte sie einen guten Job, und keiner wäre wohl auf den Gedanken gekommen, Carmen mit einer Aufgabe in Verbindung zu bringen, der sie sich tatsächlich
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