Abendfrieden
1
Der zweite Schlaganfall war tödlich gewesen.
Die Beerdigung seines Vaters war erst drei Tage her, aber Hauptkommissar Werner Danzik hatte ihn gleich doppelt begraben: auf dem Friedhof in Hamburg-Ohlsdorf und in seinem Gedächtnis. Klappe zu und weg. Erstaunlich, dass negative Dinge einfach verschwanden und nicht unaufhörlich nagend präsent waren, wie er immer gedacht hatte.
Danzik blickte vom zweiten Stock seiner Altbauwohnung hinunter auf den Eingang des gegenüberliegenden Jugendstil-Hauses. Vier junge Leute stopften gerade achtlos Möbel in einen Transporter: eine dunkel gebeizte Kommode, eine Stehlampe mit vergilbtem gekraustem Schirm, zuletzt eine weiß gestrichene Küchen-Vitrine.
Ein schönes Stück, dachte Danzik, als er auch schon stutzte. Das waren ja alles Sachen vom alten Herrn Wohlers. War der allein stehende Mann plötzlich gestorben? Was war da los? Danzik eilte auf die Straße hinunter.
»Was ist mit Herrn Wohlers? Warum bringen Sie die Sachen weg?«
»Weiß nicht. Kommt alles auf den Recyclinghof.« Der junge Mann mit dem Drei-Tage-Bart sah ihn kaum an.
Danzik hob seine Stimme. »Kann mir hier irgendjemand sagen, was mit Herrn Wohlers passiert ist?«
»Der ist tot. Mehr wissen wir aber nicht.« Das junge Mädchen, an dessen Nase ein Ring klemmte, warf ein Sesselpolster in den Wagen.
Danzik wandte sich schweigend ab. Was war schlimmer: dass Möbel zerstampft wurden und mit ihnen eine ganze Existenz, oder dass sie überlebten, als Gemälde, auf denen weiter Rosen blühten, als Porzellantassen, aus denen nun andere tranken, während man selbst schon unter der Erde lag?
Sein Blick streifte die Sträucher vorm Haus, aus deren Gezweig sich die ersten hellgrünen Spitzen hoben, in dem einen hing etwas verloren ein Nest. Daneben lugten schon ein paar gelbe Blüten aus dem großen Forsythien-Busch. Der Frühling kam. Wieder ein Frühling, zuverlässig wie jedes Jahr, das reinste Wunder. Er kam für ihn und für Laura, seine neue, sechs Monate junge Liebe. Während der alte Herr Wohlers …
Wie viele Frühlinge hatte der wohl erlebt? Jedenfalls eine Menge mehr als er. Er, Werner Danzik, war im April wieder dran. Dann wurde er 53. Manche dachten da schon an Pensionierung. Beschwingt nahm der Kommissar die letzten Stufen. Nein, er war weder berufs- noch liebesmüde. »Aufhören werde ich erst fünf oder zehn Jahre nach meinem Tod«, hatte der 73jährige Blues-Sänger B.B. King über den Ruhestand gesagt. Ein köstlicher Spruch. Werner Danzik hatte ihn aufgeschrieben.
Er setzte sich auf das rote Velours-Sofa, das ihm seine Ex-Frau gelassen hatte, und schenkte sich einen »Il Grillo« ein. Die fast prickelnde Frische des Weißweins belebte ihn, er schmeckte sie in langen Schlucken und überlegte, ob er sich neu einrichten sollte. Diesmal zu hundert Prozent, wie er es wollte, also eine schicke anthrazitgraue Ledergruppe, Regale und Tische in einem warmtonigen Holz, dazu einen neuen komfortableren Fernsehsessel … Aber nein, das ging ja gar nicht. Wenn Laura sich wirklich entschließen würde, mit ihm zusammenzuziehen, dann würde sie natürlich ein Wörtchen mitreden wollen, Frauen dominierten nun mal beim Einrichten. Und immer musste bei ihnen alles weiß sein, das nannten sie dann eine »wunderschöne, freundliche Atmosphäre.« Steriles, todeskaltes Weiß …
Laura würde da nicht anders sein. Ihre helle, mit ein paar Farbakzenten aufgeheiterte Dachwohnung in einer alten Harvestehuder Villa war doch der beste Beweis. Aber sie würden sich schon einigen. Im Übrigen gab es wichtigere Dinge. Und am Ende blieb doch nur jenes Möbel, in das man vor kurzem Herrn Wohlers gelegt hatte.
Unversehens musste Werner Danzik doch an seinen Vater denken. Wie so viele vor ihm war er in Ohlsdorf gelandet. Ohlsdorf und Friedhof waren ein Synonym in Hamburg. »Der ist reif für Ohlsdorf« oder »Endstation Ohlsdorf« – da wusste jeder, was gemeint war. Schon deshalb konnte man eine Aversion dagegen kriegen und sich nach einem idyllischen Klein-Friedhof sehnen, auch Danzik empfand das so. Andererseits war Ohlsdorf nun mal der größte und schönste Park-Friedhof Europas, und sicher war es keine Schande, in der Nachbarschaft der Sievekings oder Münchmeyers oder einer Ida Ehre zu ruhen.
Vor drei Tagen, als sie an der Grube standen, war noch ein zu kalter Wind durch die hohen, alten Bäume gefahren, und jeder hatte sich kontaktlos in seinem Mantel verkrochen. Nur seine Mutter, klein und dürr, hatte ihre Hand
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