Abendland
gilt nicht«, beharrte sie. »Wenn du wieder zurück bist, ist alles gut, und du rufst mich an.« Ich wußte natürlich, was sie dachte. Er hat Angst, impotent zu werden, dachte sie, er rechnet damit, weil er einer ist, der immer mit dem Schlimmsten rechnet und immer Vorkehrungen treffen will für den Fall, daß das Schlimmste eintritt. – Das »Schlimmste« war nicht eingetreten, die Nervenstränge waren erhalten geblieben.
Evelyn arbeitete als Kuratorin im Haus der Fotografie. Die vorangegangenen eineinhalb Jahre hatte sie damit zugebracht, eine Ausstellung über das »Wien der Jahrhundertwende« vorzubereiten. Je intensiver sie sich damit beschäftigte, desto weiter dehnte sie den Begriff der Wende aus, so daß schließlich in Klammern neben den Titel »von 1889 bis 1916« gesetzt wurde, vom Selbstmord des Kronprinzen Rudolf in Mayerling bis zur Ermordung des österreichischen Ministerpräsidenten Graf Stürgkh durch Friedrich Adler. Aber auch das genügte ihr nicht; eine Ausstellungswand sollte zudem mit »Vorgeschichte«, eine andere mit »Nachgeschichte« übertitelt werden. Im Ganzen umspannte das Projekt also fast achtzig Jahre. Ihre Redlichkeit und ihre Gewissenhaftigkeit begeisterten mich, und ich war es schließlich, der sie bat, ihr bei der Auswahl der Fotos helfen zu dürfen. So saßen wir manchmal bis spät in die Nacht hinein in ihrem Büro und breiteten Hunderte Bilder über ihren Schreibtisch, betrachteten sie unter der Lupe, notierten Registriernummern, bewegten uns im Geist durch die Straßen und Jahrzehnte – von »Klein Venedig« im Prater während der Weltausstellung zur Einweihung der Votivkirche (die fremd und spielzeughaft wie angeliefert auf dem freien Feld stand), von den Verrohrungsarbeiten des Wienflusses beim Karlsplatz zum Trauerzug für Kaiserin Sisi (zum Thema Sisi plante Evelyn einen eigenen Schrein, der nach der Ausstellung in die Schausammlung des Hauses aufgenommen werden sollte), von fleckigen Bildern mit hohläugigem Kinderelend aus den Vorstädten zu einer elfenzarten Aufnahme von Schloß Bellevue, wo Sigmund Freud, wie aus der Bildlegende zu entnehmen war, »am 24. Juli 1895 zum erstenmal einen Traum vollständig gedeutet hatte«. Erst war die Ausstellung als ein schlankes Überbrückungsprojekt gedacht gewesen, aber unter Evelyns uneitlem Diktat hatte sich die Verlegenheitslösung schließlich zu einer Paradeschau entwickelt. Eines Tages stand sie breitbeinig mit Hüftknick vor meiner Tür und sagte kaugummikauend: »Es gibt einen Katalog, und zwar keinen kleinen!« Ich stellte meine eigenen Arbeiten zurück, und wir begannen, die Texte zu formulieren; Evelyn schrieb an einem einleitenden Essay, ich übernahm die Bildunterschriften – etwa die Hälfte stammte von mir, die andere Hälfte schrieben wir gemeinsam. Irgendwann, es war im Spätsommer und schon zwei Uhr in der Nacht, saßen wir draußen vor dem Haus der Fotografie auf einer der Parkbänke, Evelyn rauchte. »Es wäre doch schade«, sagte sie, »wenn die Ausstellung nur in Wien gezeigt würde. Sie müßte auch in anderen Städten zu sehen sein. Zum Beispiel in Moskau. Die Moskowiter sind verrückt nach Fotos.« Am nächsten Tag sprach sie mit dem Direktor, der erklärte im Handumdrehen die Idee zu seiner eigenen und setzte, wie er es nannte, »das Werkl in Gang«. Heraus kam eine Schildbürgeriade. In Folge »bürokratischer Sachzwänge«, von denen jeder einzelne von wahrhaft kakanischer Absurdität war, wurde die Ausstellung zu guter Letzt gar nicht in Wien gezeigt, sondern exklusiv in Moskau.
Wenige Tage, bevor ich nach Innsbruck fuhr, war Evelyn von Schwechat abgeflogen, um gemeinsam mit ihren russischen Kollegen die Ausstellung im Moscow House of Photography aufzubauen. Nach meiner Operation rief sie mich am Handy an. Sie war aufgekratzt von dem »sagenhaften Erfolg« der Ausstellung, immer wieder, mitten im Wort, mußte sie Luft holen.
»Eine fünfzig Meter lange Schlange vor der Eingangskasse! Sechs Zeitungen haben mit Bild berichtet!«
Die Verbindung war schlecht, und mir ging es schlecht. »Wir passen nicht zueinander«, sagte ich.
»Warum nicht«, fragte sie.
»Zum Beispiel, weil du zweiunddreißig bist und ich fünfzig«, sagte ich.
Sie platzte heraus vor Lachen. »Nach zweieinhalb Jahren kommst du darauf?«
So sicher war sie sich, daß meine immer wieder vorgebrachten Einwände gegen unsere Paarschaft für sie nichts weiter als ein Spleen waren; so sicher, daß wir beide zusammenbleiben würden,
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