Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
Vom Netzwerk:
gemacht?«
    »Gilt für 99,999 Prozent.«
    »Und die 0,001 Prozent?«
    »Sind auserwählt.« Er lacht. »Zum Guten auserwählt oder zum Bösen auserwählt.« Er lacht.
    Meine Stimme: »Die Auserwählten bekommen es, die anderen müssen es selber machen?«
    Seine Stimme: »So ist es.«
    »Was tut dir leid, nicht erlernt zu haben?«
    »Kontrabaß. Der hätte gut zu mir gepaßt. Es gibt ein Foto von mir, da halte ich den Baß von Walter Page, und der war immerhin das Rückgrat von Count Basie.«
    »Wenn du dich als Achtjähriger, als Dreizehnjähriger, als Sechzehnjähriger denkst, erkennst du dich in ihnen wieder?«
    »Ja. Und sehr gerne dazu.«
    »Gibt es einen Lebensabschnitt, in dem du dir fremd vorkommst?«
    »Zwischen fünfundzwanzig und dreißig ein bißchen fremd. Gestern und vorgestern sehr fremd.«
    »Glaube, Liebe, Hoffnung. Welche Reihenfolge?«
    »Liebe, Hoffnung, Glaube. Wenn ich den anderen dabei zusehe.«
    »Bei dir selber?«
    »Keine Ahnung. Ich denke, das gilt nur bis sechzig oder siebzig. Bei den Auserwählten vielleicht etwas länger.« Er lacht.
    »Was ist das Größte, das du in deinem Leben vollbracht hast?«
    Keine Antwort darauf.
8
    Unbedingt notwendig ist es, diesem Kapitel eine Anmerkung anzufügen; sie betrifft das Fräulein Stein, dem Carl als Achtjähriger in Göttingen bei seinen Tanten begegnet war.
    Ich wußte natürlich, daß Carl Edith Stein gekannt hatte. Er hat ja oft von ihr erzählt; und ich kann bei Gott nicht behaupten, daß diese Erzählungen in unserer Familie keine Spuren hinterlassen hätten. Ich kenne sonst niemanden, der einer Heiligen begegnet ist.
    Carl war alles andere als religiös, und ich schätze, er hat bei unserem letzten Spaziergang unten beim Lansersee zum ersten- und zum letztenmal in seinem Leben den lieben Gott angerufen. Er zitierte gern den österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky, der einmal gesagt hat, er sei Agnostiker und als solcher noch weniger als ein Atheist. Das gleiche könne er, Carl, von sich behaupten; und zitierte weiter den englischen Philosophen Francis Bacon, nämlich, daß wenig Philosophie jemanden zum Atheisten werden lasse, viel Philosophie ihn jedoch zur Religion zurückbringe; weswegen es – Carls Kommentar – am gescheitesten sei, die Finger von der Philosophie zu lassen – »um die edle Pflanze des Skeptizismus vor diesem Gift zu schützen«. Mit tadelloser Geschliffenheit übte er sich in der Rolle des Verwalters seiner eigenen Vergangenheit, feilte an einer Dramaturgie seines Lebens, einer Existenz ohne jedes Dogma; diese Frau jedoch zerriß die Ordnung, zu der er sein Leben rückblickend zusammenfügen wollte; als wären Begriffe wie Glück, Zufriedenheit, Sinn, Freude, Heil, Weisheit, Wonne bloß Teile einer modularen Arithmetik, die keinen Lebenswind verträgt. Sie, die Philosophin, die Phänomenologin, hatte, wie er sich ausdrückte, »den Retourweg der Aufklärung« beschritten; sie hatte den Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit des Menschen vor sich gesehen und hatte umgedreht; hatte sich freiwillig in Fron begeben; war einem Orden beigetreten, in dem um Erlaubnis angesucht werden muß, wenn man den Mund aufmachen will. Und es ist Carl nicht eingefallen, auch nur einmal über sie zu spotten! Ihr Vorbild hat ihn in seiner alles durchwaltenden ironischen Konduite wanken lassen. Mit einer Hingabe, die er als die Frömmigkeit eines Atheisten bezeichnete, nahm er Anteil an ihrem Leben und ihrem Sterben. Im Herbst 1945 fuhr er nach Nürnberg, weil er ihrem Mörder Seyß-Inquart in die Augen sehen wollte, und als sie von Papst Johannes Paul II. heiliggesprochen wurde, sei er, sagte er, sehr verwirrt gewesen. Wörtlich sagte er: »Ich glaubte, ich müsse mich übergeben.« Edith Stein, die sich seit ihrem Eintritt in den Karmeliterorden Teresia Benedicte a Cruce nannte, wurde als »katholische Märtyrerin« heiliggesprochen. »Pius XII. hat nichts unternommen, um ihr Leben zu retten«, sagte Carl, »und nun spricht sie einer seiner Nachfolger heilig. Sie ist ja nicht wegen ihres katholischen Glaubens in Auschwitz ermordet worden, sondern weil sie Jüdin war.« Meine Mutter, die ich bei Carls Beerdigung traf, erzählte mir, er habe sie angerufen, als in den Zeitungen von der Heiligsprechung berichtet wurde. Er habe am Telefon geweint, sagte sie. Ich sagte: »Das glaube ich dir nicht.« Sie sagte: »Weil du gar nichts glaubst.« Ich sagte: »Jetzt machst du ihn besser, als er war, früher hast du ihn schlechter

Weitere Kostenlose Bücher