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Abendland

Abendland

Titel: Abendland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Köhlmeier
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Steuerberater zusammenstellen, neue Termine mit dem Fliesenleger vereinbaren. So vergingen vier Wochen, und ich schrieb nicht eine Zeile; ich warf nicht einmal einen Blick in meine Notizhefte – C.J.C. 1 usw. bis C.J.C. 7. Daß ich Carl telefonisch nicht erreichte, daß ich gar nichts mehr von ihm hörte, tauchte die Erinnerung an meinen Besuch in ein bedrückend irreales Licht. Warum rief er nicht zurück? Oder ließ zurückrufen? Hatte ich ihn gekränkt? Hätte ich mehr Engagement zeigen sollen? Oder hatte er das Interesse an unserem Projekt verloren? Hatte inzwischen der Zweifel obsiegt, ob ich der richtige sei, sein Leben zu erzählen? Sah er in dieser Art der Lebensverlängerung über das Leben hinaus am Ende doch keine Genugtuung für das Unrecht, das ihm mit dem Tod angetan würde? – Alle meine Angelegenheiten erscheinen mir in einem unfertigen Zustand.
3
    Und dann: Freitag nacht, Mitte April. Ich war gerade von einem Spaziergang durch die Innenstadt nach Hause gekommen. Es klingelte an meiner Wohnungstür. Ich hatte keinen Zweifel, daß es Evelyn war. Sie besaß einen Schlüssel zu meiner Wohnung. Sie hatte ihn noch nie gebraucht, sie wollte ihn auch nicht gebrauchen, sie wollte ihn nur besitzen. Ich lugte durch den Spion und sah den Kopf eines jungen Mannes – schulterlanges lockiges Haar, Zigarette im Mundwinkel. Ich fragte, wer da sei, und eine kräftige Stimme antwortete:
    »David. Dein Sohn.«
    Er war ein hübscher Mann, dünn, der Hemdkragen zu weit, die Augen überrascht und überraschend groß. Soweit ich das alles im Halbdunkel beurteilen konnte. Er sah verwahrlost aus, verdreckt, müde wie unter Drogen. Trug einen lila eingefärbten Secondhand-Mantel über einem T-Shirt, hatte einen feldgrauen Rucksack an einer Schulter hängen. Ich streckte ihm die Rechte hin, hätte beinahe meinen Namen gesagt. Mit der Linken hielt ich die Tür fest, mein Arm war wie eine Schranke.
    »Darf ich reinkommen?« fragte er. »Was soll ich mit der Kippe machen?«
    »Tritt drauf«, sagte ich.
    Er habe keine Erinnerung an mich, sagte er. Seine Unterlippe zitterte ein wenig, als hätte er sich zuviel zugetraut.
    »Wie auch«, sagte ich. Dachte, daß er vielleicht einer ist, bei dem man leicht etwas falsch machen kann.
    Er trat ein. Blickte sich nicht um. Er roch nach Zigarettenrauch und alter Wäsche. Den Rucksack legte er nicht ab. Als ich ihn zum letztenmal gesehen hatte, war er gerade ein Jahr alt geworden. Ich hatte die Wohnung verlassen, es war Abend gewesen, er lag bereits in seinem Bettchen und schlief. Er mochte es nicht, wenn man ihn zudeckte. Er lag auf der Seite, die Beinchen angewinkelt, als wäre er aus dem Sitzen gekippt. Natürlich hatte ich nicht geglaubt, daß so viel Zeit vergehen würde bis zum nächstenmal. Er wolle nur über Nacht bleiben, sagte er, er sei auf der Durchreise. Er habe sechsunddreißig Stunden nicht geschlafen. Ich solle entschuldigen, wie er aussehe, normalerweise sehe er anders aus. Es gebe nichts zu erklären, aber morgen werde er mir alle Fragen beantworten, wenn ich das wünschte.
    »Wahrscheinlich wünsche ich das«, sagte ich.
    Er stand in der Bibliothek und starrte vor sich auf den Boden. Die Haare hingen ihm herab.
    »Willst du nicht den Mantel ablegen?« fragte ich.
    Er warf den Rucksack neben den Fauteuil. »Es wundert dich sicher, wie ich herausgekriegt habe, wo du wohnst.«
    »Eigentlich nicht. Ich stehe im Telefonbuch.«
    Er blickte mich überrascht an, und ich hatte zum erstenmal freie Sicht auf Augen, Nase, Mund und Wangen. »Das wußte ich nicht. Damit habe ich nicht gerechnet. Ich habe gar nicht nachgeschaut.«
    Es tat mir leid, daß ich ihm bei der Tür nur die Hand gegeben hatte. Jetzt wäre eine Umarmung etwas Mutwilliges gewesen.
    »Alles morgen«, sagte ich.
    »Das ist mir recht«, sagte er.
    Ich richtete ihm ein Bett auf dem Sofa oben in meinem neuen Arbeitszimmer. Das Kopfkissen legte ich auf die Fußseite des Sofas. Damit ihn am Morgen die Sonne nicht blende. Als ich über die Stiege herunterkam, saß er in der Bibliothek im Fauteuil, hatte die Beine von sich gestreckt und schlief. Er trug keine Socken, die Füße steckten nackt in Turnschuhen. Ich legte ihm meine Hand an die Wange. Für den Augenblick des Erwachens war er ein Kind. Er sei zu erschöpft, um sich zu waschen, sagte er, ob er so schmutzig ins Bett gehen dürfe.
    »Aber sicher«, sagte ich.
    Ich rief die Auslandsauskunft an. Eine Dagmar Vorländer gab es in Frankfurt am Main nicht. Warum auch

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