Abendland
zurück, und als ich zu ihnen aufgeschlossen hatte, paßten sie sich meinem Tempo an, so daß wir in gleicher Höhe nebeneinander auf der Mitte der Allee gingen. Aus ihrem Gespräch konstruierte ich mir eine Affäre zu dritt, die vielleicht schon ein halbes Jahrhundert zurücklag. Oder ich fuhr mit der U4 hinaus nach Schönbrunn und streifte ziellos durch die Gärten, in denen sich die ersten Blätter lindgrün entfalteten – es war, als löste sich bei ihrem Anblick das Eisenband um meine Brust, aber wenn ich den Blick abwandte und weiterging, zog sich das Band wieder zusammen; oder ich schlich bei Dunkelheit durch die Gassen des vierten und fünften Bezirks, in den Manteltaschen zur Sicherheit zwei Einlagen (Tena Lady Normal, die mir Carls Krankenschwester, Frau Mungenast, empfohlen und besorgt hatte). Ich kaufte bei Virgin auf der Mariahilferstraße eine CD von Wes Montgomery mit einer Aufnahme von Heartstrings , weil Carl und ich dieses Stück so oft gehört hatten. Zu Hause schaltete ich den Player nach ein paar Takten ab, die Musik riß ein Loch in mir auf. Ich verspürte ein Gelüst nach Delikatessen, aber das erwies sich nicht als ein Aufbrechen wiedergewonnener Sinnesfreude, sondern als ein querulantisches Pochen auf Revanche – »Das steht mir jetzt bei Gott zu!« –; und egal, was ich mir auf dem Naschmarkt oder beim Schönbichler oder beim Meinl am Graben oder in dem dämlich teuren neuen Feinschmeckergeschäft hinter dem Stephansdom einpacken ließ, mehr als zwei Bissen brachte ich nicht hinunter. Ich war mutlos und sank von Stunde zu Stunde tiefer in Trübsinn und Einsamkeit, und die Angst, der Krebs könnte doch nicht restlos entfernt worden sein, meldete sich wieder. Vor dem Schlafengehen durchforschte ich den Tag nach Spuren jener Weisheit, die angeblich in der Krankheit liege und die Einsichten von lang wirkender Dauer und großer Erklärungskraft mit sich bringe. Nichts.
2
Ich hätte Evelyn anrufen können. Ich hätte sie anrufen sollen. Ich wußte, sie wartete auf ein Zeichen von mir. Ich tat es nicht. Legte den Hörer wieder auf. Ich fürchtete und hoffte zugleich, ihr zufällig auf der Straße zu begegnen; daß sie, die Hände in den Hosentaschen, den Kragen ihres metallblauen, gesteppten Blousons aufgestellt, sich nahe an der Hauswand haltend, mit ihren ausladenden Männerschritten auf mich zukam – hochgewachsen, athletisch, gerade wie ein Maibaum; schwarz überfärbte, mit Pomade glänzend geringelte, enge Locken; ein Lippenpaar, das sich in scharfen Winkeln traf, darüber ein dunkler Schimmer Flaum; mediterraner Teint, an den Wangen gesprenkelt von zart ockerfarbenen Aknenarben aus der Zeit von Rudolf Kirchschlägers und Ronald Reagans Präsidentschaften –; daß sie zwei Finger an die Schläfe hob und sie mir zum Gruß entgegenschleuderte, ein schiefes Matrosengrinsen im Gesicht.
Als Kind habe sie heftig gestottert, erzählte sie mir. Ihre Mutter (Vater gab es keinen) habe, als sie noch nicht lesen und schreiben konnte, mit ihr zusammen ein Stottertagebuch geführt. Einmal in der Woche sei sie beim Logopäden gewesen, dort habe sie gelernt, daß sich das Stottern verringere, wenn sie flüstert. Das habe ihr Sicherheit gegeben. Als sie in die Schule eintrat, verschwand das Stottern restlos. Sie habe allerdings immer gewußt, daß sich der Feind nur zurückgezogen, daß er aber nicht ihr Haus verlassen habe. Und tatsächlich, mit Zwanzig fing es wieder an. Sie begab sich abermals zum Logopäden, inzwischen wußte man mehr über die Balbuties, sie leide an einer latenten klonischen Form, hieß es. Sie schloß sich einer Selbsthilfegruppe an, in der jeden Dienstagabend gemeinsam gesungen, gesprochen und geflüstert wurde. Nach einem Jahr hatte sie ihr Leiden im Griff. Wenn sie aufgeregt ist, kann es geschehen, daß sie bei manchen Startlauten hängenbleibt. Dann senkt sie ihre Stimme zu einem Flüstern, und es ist vorbei. Wenn das Flüstern versagt, wechselt sie die Methode und redet gegen das Stottern an. »Das ist, wie wenn man mit Nitroglycerin eine brennende Ölquelle löscht«, erklärte sie mir.
Ich ging durch die Franzensgasse, vorbei am Haus Nummer 17, kehrte um, aber ich drückte nicht auf den Klingelknopf neben ihrem Namen. Bevor ich nach Innsbruck in die Klinik gefahren war, hatte ich zu ihr gesagt: »Wir wollen es lassen.« Sie hatte genickt und sehr ernst korrigiert: »Wir tun so, als ob wir es lassen.« »Nicht als ob«, hatte ich gesagt, »es gilt.« »Du wirst sehen, es
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