Abendland
legendärem Commodore Music Shop in der 44. Straße gewesen, aus dem Blue Note Records hervorgegangen waren, und hatte dort sehr viel Geld für Schallplatten liegenlassen. Er riet meinem Vater dringend, die Einladung anzunehmen, selbstverständlich würde er für alle Kosten aufkommen, und wenn er es wünsche, werde er ihn begleiten. Mein Vater aber wehrte ab. Nicht, weil er sich von Carl nicht aushalten lassen wollte. Und sicher nicht, weil er sich vor der großen Stadt fürchtete. Er fühlte sich nicht reif genug für eine Schallplattenaufnahme. Es dauerte noch eine Weile, bis es soweit war; und dann spielte er nicht mehr auf der Contragitarre – nie mehr – natürlich »nie mehr«; lauwarme Zwischenzustände wie »manchmal« oder »selten« oder »ab und zu« oder »bisweilen« kannte mein Vater nicht; für ihn gab es nur: immer oder nie.
Mein Vater konnte mit seinen vierundzwanzig Jahren bereits auf eine lange Karriere als Musiker zurückblicken. Zum ersten Mal war er auf der Bühne eines Tanzlokals gestanden, da war er noch nicht zehn gewesen. Seit seinem vierzehnten Lebensjahr war er regelmäßig gemeinsam mit meinem Großvater aufgetreten. Ich erinnere mich an ein Foto: mein Vater, versteckt hinter seiner Gitarre, neben ihm mein Großvater mit einem Schnurrbart à la Johann Strauß, auf seinen Sohn deutend wie ein Dompteur auf einen Affen. Mein Vater hatte sich eine eigene Technik erarbeitet, die es ihm ermöglichte, seine kleine Hand schnell zwischen den Gitarrensaiten und den Baßsaiten zu bewegen. Einer der Höhepunkte der Abende war, daß mein Großvater ein Stück begann, meistens einen Galopp, mein Vater einsetzte, mein Großvater ihn antrieb, schneller, schneller, und mein Vater die Geschwindigkeit der Schlaghand zu einem wahren Teufelstanz steigerte, bis einige Damen im Publikum »Aufhören! Aufhören!« riefen, weil sie fürchteten, das Kind könnte vor ihren Augen zusammenbrechen.
Mein Großvater starb an Lungenkrebs, der Krieg war gerade ein Jahr alt und sein Sohn achtzehn. Zum Militärdienst wurde mein Vater nicht eingezogen, nicht wegen Kleinheit und Magerkeit, sicher auch nicht, weil meine Großmutter ohne ihn vielleicht verhungert wäre – wen hätte das damals groß gekümmert? –, sondern, weil er an der Heimatfront gebraucht wurde, nämlich zur musikalischen Unterhaltung der Parteibonzen im feinen Hietzing. Den Nazis verdankten er und meine Großmutter, daß sie nicht delogiert wurden und auch in den letzten Kriegsmonaten ihre Sachen noch einigermaßen zusammenhalten konnten.
Schon während des Krieges war mein Vater mit dem Jazz in Berührung gekommen. Was er übrigens ebenfalls den Nazis verdankte. Konkret der Gestapo von Paris. Die hatte nämlich im Zuge einer Razzia die beliebte Band des Club Ventdour verhaftet – wegen Jazz! – und nach Wien zur Zwangsarbeit überstellt. Den österreichischen Nazis schien die Musik jedoch zu gefallen. Einer der Musiker, der Schlagzeuger Arthur Motta (nach dem Krieg spielte er eine kurze Zeit mit Django Reinhardt zusammen), wurde sogar für die Tanzkapelle des Reichssenders Wien verpflichtet. Die Musiker durften sich relativ frei in der Stadt bewegen, und so trafen sie bald mit Wiener Kollegen zusammen, mit Uzi Förster, dem Pianisten Roland Kovac – und eben auch mit meinen Vater. Einer der Franzosen, Marcel Etlens hieß er, er war Akkordeonist, Bassist und Gitarrist, befreundete sich mit ihm. Er zeigte ihm Tricks. Wobei sich mein Vater partout nichts auf der Gitarre beibringen lassen wollte; er habe, sagte er, den besten Gitarrelehrer gehabt, nämlich seinen Vater, und er habe bis an sein Lebensende genug zu tun, um alles, was der in seinen Kopf gepflanzt habe, in die Hände wachsen zu lassen. Was ihn interessierte, war, Effekte und Klänge, wie sie auf anderen Instrumenten hervorgebracht wurden, auf die Gitarre zu übertragen. Von Arthur Motta ließ er sich verschiedene Rhythmen zeigen, studierte genau die Technik, wie er die Trommeln und Becken schlug, wie er Synkopen knapp neben den erwarteten Stellen setzte und so die Dynamik steigerte. »Eine Fremdsprache lernen«, nannte er das. Gitarristen ist er sein Leben lang aus dem Weg gegangen; aber von Louis Armstrongs Gesang schaute er sich das Vibrato ab, ebenso vom Gesang der Marilyn Monroe; wie man mit leisen Tönen umgeht, lernte er von Lester Youngs Saxophonspiel und – später – von den zarten Melodien aus Chet Bakers Trompete; von Coleman Hawkins, den er eine Zeitlang fanatisch
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